Von Luis Pintak (Sensibler Inhalt: Schilderung von Schicksalsschlägen oder sozialer Problematiken wie Drogen)
Seit 2010 leitet Esther Gulde die Wohnungslosen- und Obdachloseneinrichtung in der Unteren Maschstraße 13b, eine Einrichtung der Heilsarmee. Im Interview mit göhört klärt sie Luis Pintak über die Geschichte der Heilsarmee und den Werdegang der Einrichtung vor Ort auf. Dabei geht sie auf Bewohner*innen und Mitarbeitende im Heim, die Resonanz der Bevölkerung, Glaubensfragen und die politischen Aufs und Abs in den letzten Jahren ein. Momentan steht eine Frage besonders dringend im Fokus: die Suche nach einem neuen Gebäude aufgrund zunehmender Mängel im alten Gebäude.
göhört: Was ist eigentlich die Heilsarmee, Frau Gulde?
Esther Gulde: Also erstens ist die Heilsarmee eine evangelische Freikirche. Als solche ist sie von William Booth in Ost-London schon im 19. Jahrhundert gegründet worden. Also schon lange her! William Booth hat damals gesagt, dass es eine Kirche braucht, wo auch Menschen rein können, die vielleicht nicht so wunderbar angezogen sind und vielleicht auch viele Nöte mitbringen, und wo man die soziale Arbeit mit der Botschaft von Jesus Christus verknüpft und ihnen hilft, mit ihrem Leben eigentlich erstmal klarzukommen. Beispielsweise, dass sie eine Wohnung bekommen, dass sie etwas zu essen haben, dass sie anständig gekleidet sind. Man kann ja viel von Gott erzählen, aber diese Menschen erleben Gott ja nicht in ihrem Elend. Sie würden fragen: „Ja, wo ist er denn? Wenn ich in der Gosse liege, hilft es mir nichts, wenn der Prediger mir sagt: ‚Gott liebt dich!‘“ Zu der Zeit entstand auch das Motto, das die Heilsarmee bis heute noch hat: „Suppe, Seife, Seelenheil“. Ich gebe dem Menschen also erst etwas zu essen, dann gebe ich ihm Kleidung sowie etwas zum Waschen und dann können wir auch mal darüber reden, ob er auch für die christliche Botschaft offen ist.
„Er wollte diese Menschen auch mit in seine Kirche nehmen“: Methodistenprediger William Booth kümmert sich um Obdachlose
göhört: Die Heilsarmee wurde also im 19. Jahrhundert gegründet. Das war vielleicht auch eine Umbruchzeit für England.
Gulde: Genau. Die Not war groß, die Schere zwischen arm und reich war entsprechend tief und weit. Viele waren auf der Straße. Das hat William Booth gesehen. Er war eigentlich Prediger in der Methodistenkirche. Er wollte diese Menschen auch mit in seine Kirche nehmen. Das fanden die höheren Schichten aber nicht so lustig, sie fanden es nicht toll. Diese Menschen mussten dann im Gottesdienstraum hinter einem Vorhang Platz nehmen. William Booth sagte dann: „Nee, dann gehe ich auch. Dann gehe ich zu den Menschen, da, wo sie sind!“ Die Heilsarmee ist deswegen auch immer auf die Straßen gegangen. Am Anfang hatten sie auch keinen Gottesdienstraum – sie sind dahin gegangen, wo die Menschen waren.
göhört: Könnten Sie noch einmal erklären, was die Methodistenkirche ist?
Gulde: Die Methodistenkirche war damals eine der evangelischen Strömungen. Es gibt sie auch heute noch, wie auch die lutherische und die reformierte Gemeinde. Damals waren die Methodisten in London eine der großen, evangelischen Kirchenbewegungen. In der Kirche saßen aber natürlich nur Menschen aus der Oberklasse, die fein angezogen waren und nicht unbedingt mit obdachlosen Menschen zusammentreffen. Diese Vorbehalte, die es auch heute noch manchmal gibt, waren damals noch viel größer.
göhört: Und William Booth wollte das ändern?
Gulde: Genau. Er wollte anpacken und, dass sich das ändert. Er wollte auch, dass sich die Arbeitsbedingungen in Fabriken, wie beispielsweise solche für Zündhölzer, wegen der Gefährlichkeit etc. verändern. Er rief damals auch eine eigene Zündholz-Fabrik ins Leben, in der die Menschen zu besseren Bedingungen und für besseren Lohn arbeiten konnten, um sich dadurch auch eine Existenz aufbauen zu können. Somit waren die Kirche und die soziale Arbeit immer miteinander verknüpft – von Anfang an. Die Heilsarmee hat immer beides gemacht: Gepredigt und soziale Arbeit getan, was bis heute so geblieben ist. In Deutschland haben wir die Gemeinden, in denen Gottes Wort gepredigt wird, aber wir haben auch ganz viele soziale Einrichtungen und Projekte. Hier in Niedersachsen gibt es nur noch unser Haus als soziale Einrichtung, was damit zusammenhängt, dass die niedersächsische Gesetzgebung im sozialen Bereich sehr schwierig ist. Das ist alles nicht ganz so einfach. Somit gibt es in Göttingen keine Gemeinde mehr – sie ist 2003 geschlossen worden, weil es keine Mitglieder mehr gab. Aber das Wohn- und Übernachtungsheim ist übriggeblieben.
Militärische Ränge als Wiedererkennungsmerkmal
göhört: Kommen wir noch einmal kurz auf den Begriff „Heilsarmee“ zurück. Warum steckt da das Wort „Armee“ drinnen?
Gulde: William Booth überlegte sich: Wie können wir so sichtbar sein, dass jeder uns erkennt? Wie können wir uns von den anderen, schon bestehenden Kirchen abheben? Deswegen hat er seiner Kirche diese militärische Struktur gegeben und sie „Salvation Army“ genannt. Die Armee, die gegen das Böse in der Welt kämpft – mit anderen Waffen, als man eigentlich denkt: Nämlich mit dem Wort Gottes und der Nächstenliebe. Er hat alles militärisch aufgebaut. Die hauptamtlichen Beschäftigten, die auch die Bibelschulen besuchen und die Mitglieder in den Gemeinden sind, haben eine Uniform. Beim Pastor gibt es Ränge, also vom Kapitän über Leutnant, Major, Oberst – alles, was man so aus der Armee kennt. Pastoren können auch die Einrichtung leiten. Booth war wichtig, dass man ansprechbar ist und dass die Menschen einen erkennen. Das ist ihm auch gelungen.
göhört: Wie lange gibt es das Heim eigentlich hier in Göttingen schon?
Gulde: Die Heilsarmee hier hat ihre offizielle Arbeit tatsächlich schon 1901 begonnen, damals aber nur die Gemeindearbeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann dann hier die offizielle, soziale Arbeit der Heilsarmee. Das war wohl hinter dem Bahnhof in Baracken, wo obdachlose Männer nach dem Krieg aufgenommen wurden. Dann hatte die Heilsarmee in Neustadt 12 ihr Zuhause. Das Haus ist inzwischen gar nicht mehr da, weil dort alles neugebaut wurde. 1971/72 hat die Stadt Göttingen angeboten, dass wir hier in die Untere Maschstraße 13b ziehen. Dieses Haus hat vorher einer Privatperson gehört, die ohne Erben verstorben war. Damit sind Haus und Grundstück der Stadt zugefallen und die Heilsarmee hat es als Mieter bekommen.
„Am Anfang war es ein reines Männerwohnheim“: Viele Veränderungen über die Jahre

göhört: Welche Menschen arbeiten hier? Wie sind Sie zur Heilsarmee hier in Göttingen gekommen?
Gulde: Das Haus hat in den letzten Jahrzehnten viele Wandlungen durchgemacht. Am Anfang war es ein reines Männerwohnheim. Es gab viel Fluktuation. Die Menschen, die hier waren, kamen für ein paar Nächte und dann gingen sie wieder. Das Haus hatte über vierzig Betten, es waren also in jedem Zimmer drei bis vier Menschen in Doppelstockbetten. 2003 wurde das schon mal geändert: Es gab dann höchstens Doppelzimmer. Mit dieser Situation hat sich natürlich auch die Personalsituation geändert. Wir haben für die Menschen, die hier sind, Vollverpflegung, was heißt, dass wir auch immer mehr Festangestellte hatten. Manchmal hat man auch Bewohner beschäftigt. Mit den Jahren haben wir uns natürlich weiterentwickelt. Ich selbst habe das Haus im August 2010 übernommen. Damals kam ich frisch von der Uni Kassel, an der ich Soziale Arbeit studiert hatte. Dort hatte ich aber schon die Anbindung zur Heilsarmee. Auch in Kassel gibt es ein Männerwohnheim, wo mein Mann auch sehr lange gearbeitet hat. Ich habe ihn dort auch während meines Praktikums kennengelernt. Gemeinsam haben wir dieses Haus dann übernommen. Zu der Zeit war kein Leiter vor Ort, der das Haus weiterführen konnte. Man wollte das Heim auch endlich mal mit jemandem besetzen, der etwas studiert hatte. Vorher waren es immer Menschen gewesen, die zur Heilsarmee gehörten, Uniform trugen und BWL studiert hatten – wenn überhaupt. Aber es gab nie jemanden, der Soziale Arbeit studiert und das auf Papier bescheinigt hatte und das auch konnte. Man wollte das also ändern. Zu der Zeit war es so, dass wir nur Verträge mit der Stadt Göttingen hatten und diese auch bestimmte, wer hier reindurfte, wer hierbleiben durfte und wen wir aufnehmen durften. Das hatte dann zur Folge, dass, kurz nachdem wir das Haus übernommen hatten, eine Auflage kam, dass wir erwerbsfähige Menschen, wie bspw. Hartz-IV-Empfänger, nicht mehr dauerhaft beherbergen durften. Sie durften also nicht mehr fest aufgenommen werden – weil es zu teuer war. Es war einfach mehr Geld als für eine eigene Wohnung und man sagte dann: Wenn diese Menschen auf dem Papier noch arbeitsfähig sind, können wir das so nicht zahlen. Der Landkreis Göttingen stellte auch sämtliche Zahlungen zum 01.01.2011 ein. Es gab dann viele Verhandlungen, während denen das Haus auch sehr auf der Kippe stand. Wir haben dann mit der Stadt vereinbart: Okay, dann nehmen wir die, „die kein anderer will“. Das ist eh etwas, was die Heilsarmee immer tut: Wir nehmen die auf, die nirgendwo anders einen Platz finden, die überall herausgeflogen sind und denen keiner mehr eine Chance gibt. Das hatte wiederum die Folge, dass wir ganz viele Alte und Kranke bekamen. Wir haben dann gemerkt: Das wird schwierig. 2013 haben wir das Haus für Frauen geöffnet. Wir hatten dafür zwei Doppelzimmer, die abgetrennt von den restlichen Zimmern waren. Dort waren auch immer mal wieder Frauen untergebracht. 2014/15 kam die große Flüchtlingswelle und die Stadt bat uns, unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen. Neun Monate hatten wir dann ganz viele junge Menschen aus verschiedensten Nationen hier. Wir haben dann die Zimmerzahl aufgestockt, es gab viel mehr Doppelzimmer. Das war eine spannende Zeit.
Suche nach Klarheit und rechtlicher Sicherheit
Gulde: Aber als diese Phase zu Ende war, standen wir wieder hier mit vielen leeren Betten da. Somit haben wir ab 2016 Verhandlungen mit dem Land Niedersachsen geführt. Wir wollten wirklich als stationäre Wohnungslosen-Einrichtung anerkannt werden. Das heißt: Wirklich feste Plätze vereinbaren, 16 im stationären Bereich und fünf Notbetten. Mit einem festen Personalplan: Wen beschäftigen wir, welche Stundenanteile, wer darf hier festangestellt werden – dass alles hier auf rechtlichen Fuß und Boden kam. Damit wir selbst sagen können: Jawoll, dieser Mensch hat Hilfebedarf, den führen wir in einem Bericht aus und begründen ihn! Dann können wir ihn aufnehmen – das hat kein anderer zu sagen. Das ist uns gelungen: Zum 01.09.2017 sind wir eine anerkannte, stationäre Wohnungsloseneinrichtung geworden, mit einem festen Stellenplan, der besagt, dass hier – mit meiner Person – bis zu 13 Menschen arbeiten dürfen. Es gibt verschiedene Bereiche: Drei Kräfte arbeiten in der Reinigung – das sind alles Minijobber, die noch woanders eine Hauptarbeitsstelle haben. Dann gibt es eine Verwaltungskraft mit 15 Stunden Arbeitszeit – derzeit ist die Stelle allerdings unbesetzt. Zusätzlich 1,5 Stellen für Soziale Arbeit, wovon eine Stelle allerdings meine ist, sodass ich die Einrichtung ehrenamtlich nebenbei leiten muss. Das ist die große Schwierigkeit, diese Regelung gibt es auch nur in Niedersachsen. In anderen Bundesländern ist die Leitung mit mindestens einer halben Stelle raus, hier jedoch nicht. Ich muss zwölf Menschen betreuen, so sagt es der Personalschlüssel in Niedersachsen, und alles andere nebenher machen. Das ist manchmal nicht ganz einfach. Wir haben noch eine Kollegin, die uns mit ihrer halben Stelle unterstützt. Das restliche Personal arbeitet in Pforte und Küche. Es gibt ein Zwei-Schicht-System: Frühschicht und Spätschicht. Wer Frühschicht hat, muss auch Frühstück machen und Mittagessen kochen. Wer Spätdienst hat, macht das Abendbrot. Die Menschen, die hier arbeiten, sind teilweise gelernte Köche, die es aber auch aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr schaffen würden, in der Großgastronomie zu arbeiten. Wir suchen auch gezielt Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keinen Job finden, sei es wegen einer Schwerbehinderung, sei es durch frühere Alkoholabhängigkeit und dadurch bedingte Folgeschäden. Wir nehmen auch Menschen, die erstmal wieder eine Eingliederung machen müssen, wo man gar nicht weiß, wie belastbar sie sind. Wir achten wenig auf das, was sie an Fachkenntnissen mitbringen. In dem Bereich Pforte, Küche und Reinigung können wir jeden dazu bringen, das zu lernen. In dem Bereich Buchhaltung und Soziale Arbeit muss natürlich jemand mit Fachkenntnissen her. Wir haben auch immer wieder Menschen mit einer Schwerbehinderung oder solche, die nach schwerer Krankheit wieder ins Berufsleben eintreten. Teilweise sind diese auch immer noch krank und versterben tatsächlich leider während ihrer Arbeitstätigkeit hier. Trotzdem ist es total spannend. Wir haben auch oft Praktikanten von Universitäten und Schulen hier, die wir dann mit ausbilden oder die Gelegenheit geben, einfach mal in diesen Arbeitsbereich reinzuschnuppern. Es ist sehr spannend.
„Mehr als ein Beruf“: Familiärer Umgang im Haus

göhört: Das klingt wirklich spannend, aber auch kompliziert. Es macht Ihnen trotzdem Spaß?
Gulde: Es ist sicherlich mehr als ein Beruf, es ist eine Berufung. Ich wohne hier auch mit meiner Familie, also meinem Mann und unseren zwei Kindern, in der Einrichtung. Das heißt natürlich auch, dass wir immer da und ansprechbar sind. Auch wenn wir in den Urlaub fahren, ist das Handy nie ausgestellt – wir sind immer irgendwie irgendwo im Hintergrund erreichbar. Das braucht man auch. Wir haben keinen Nachtdienst hier: von 23 bis 6 Uhr ist die Pforte unbesetzt. Das Haus ist zu. Wenn etwas passiert, haben wir Bereitschaft. Wir haben noch einen Mitarbeiter, der bald seine Rentenzeit erreicht. Er hat hier eine Dienstwohnung und dementsprechend Bereitschaft, wenn wir nicht da sind. Er ist gelernter Koch und schon sehr lange hier.
göhört: War das vielleicht der Herr unten, der mich reingelassen hat?
Gulde: Ja genau, der war das! (lacht) Die Entwicklung des Hauses ist schon spannend. Aber es gibt immer wieder Situationen, die uns schon an unsere Grenzen bringen. Das sind meistens nicht so sehr die Klienten, mit denen wir zu tun haben, sondern eher das politische Drumherum: Ist man denn gewollt? Ist die Arbeit gewollt? Wird die Arbeit politisch unterstützt? Wir haben ja wirklich viele Kämpfe um die Existenz dieses Hauses in den letzten 13 Jahren geführt. Mit Unterbelegung, weil die Stadt bestimmt hat, wer hier einzieht. Mit den neuen Verträgen, wo lange nicht klar war, ob diese von beiden Seiten unterzeichnet werden oder es das Aus der Einrichtung ist? Und nun ist das Gebäude unser großes Problem.
Bauliche Mängel, Schimmelprobleme, ungerechte Aufteilung: Dringende Suche nach neuem Gebäude
göhört: Das konnte man zuletzt auch den Medienberichten entnehmen.
Gulde: Genau. Das ist etwas, wo wir noch so viel tun können. Wir haben es nicht in der Hand, ob wir ein neues Haus finden, das so gut geeignet ist, dass wir unsere Arbeit dort noch besser machen können. Zum Beispiel, indem wir es behindertengerecht einrichten. Für Alte und Kranke ist so ein Treppenhaus ohne Lift – wie hier – fast nicht mehr zu überwinden. Manche sitzen eigentlich nur noch in ihren Zimmern und kommen nur zu Arztterminen herunter. Sie schaffen es nicht mal mehr zu Mahlzeiten herunter, weil die Treppe wirklich schlimm ist. Wir haben inzwischen auch Menschen, die außerhalb des Hauses auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Auch die Bäder sind nicht behindertengerecht. Es gibt sehr kleine Zimmer und sehr große Zimmer; es ist alles sehr unfair aufgeteilt. Aufgrund der baulichen Situation können wir momentan auch keine Frauen mehr aufnehmen, nur noch Männer. Die Frauendusche im Keller ist eben nicht mehr zugänglich: der Keller ist wegen Schimmel gesperrt. Das macht es nicht leicht. Unsere große Angst ist immer: Wenn das mal schief geht und wir mal eher ausziehen müssen, als wir etwas Neues haben, wissen wir nicht, was mit der Einrichtung passiert.
göhört: Gibt es eigentlich noch weitere Wohnungsloseneinrichtungen in Göttingen?
Gulde: Es gibt noch eine große Einrichtung von der Diakonie am Holtenser Berg. In diesen Appartement-Häusern hat es auch kürzlich erst gebrannt, das stand auch groß in der Presse. Der Unterschied zu unserer Einrichtung ist, dass dort ein oder zwei Leute in einem Appartement mit Selbstversorgung, bspw. mit Selberkochen, wohnen. Das könnten unsere Bewohner gar nicht. Oder man muss sich Essen auf Rädern kommen lassen, was auch ein Kostenfaktor ist. Essen auf Rädern wird auch nicht günstiger und es ist nicht durch den Pflegesatz abgedeckt. Man muss also auch von seinem Taschengeld dazu bezahlen. Die Menschen hier haben auch ein gekürztes Taschengeld. Sie bekommen nicht den Regelsatz, weil wir auch Vollverpflegung stellen. Das muss ja auch bezahlt werden. Die Bewohner bekommen im Moment etwa 170 Euro Taschen- und Begleitungsgeld im Monat – zur freien Verfügung. Alles, was sie zum Leben brauchen, ist hier vorhanden. Es gibt auch eine Kleiderkammer. Man muss nicht wirklich viel ausgeben, außer man muss seine Sucht finanzieren. Beispielsweise Alkohol, Zigaretten und manchmal Drogen. Das ist dann natürlich schwierig. Ansonsten haben wir in Göttingen eher Einrichtungen der Eingliederungshilfe, bspw. für Menschen mit seelischer Behinderung oder mit Suchtmittelabhängigkeit. Solche Menschen stranden auch wiederum bei uns, weil die Eingliederungshilfe entweder nicht passend ist oder man fliegt heraus, wenn man gegen etwas verstößt – schneller als bei uns. Es gibt auch zu wenig Plätze. Das ist einfach Fakt. Wir haben dann betreute Wohnformen, also eine eigene Wohnung mit ambulanter Betreuung. Dafür sind unsere Klienten aber oft auch nicht geeignet, sie brauchen den stationären Rahmen.
göhört: Verstehe ich es dann richtig, dass die Einrichtung durch die Stadt finanziert wird?
Gulde: Die Einrichtung finanziert sich auf Grund des Pflegesatzes. Beim Pflegesatz kommen zwei Drittel vom Land Niedersachsen wieder und ein Drittel übernimmt die Kommune. Wir bieten auch Notübernachtungen in einem Fünf-Bett-Zimmer an – das ist allerdings nur mit der Stadt vereinbart, die diese auch zahlt. Die Kommune muss ja eine ordnungsrechtliche Unterbringung bereitstellen und fünf Betten dafür sind hier. Das sind aber wirklich nur bis zu drei Nächte im Monat pro Person, die eine Person hier verbringen darf. Dann muss man schauen, wo der Mensch eigentlich hingehört oder hinwill und eventuell weitervermitteln. Oder man nimmt ihn fest auf.
Ein typischer Tag im Wohnheim

göhört: Könnten Sie noch etwas aus dem Alltag in der Einrichtung erzählen? Wie sieht ein typischer Tag aus?
Gulde: Oh… Was ist ein typischer Tag? (lacht) Das wüsste ich auch gerne, weil hier tatsächlich jeder Tag anders ist. Man weiß nie, was einen erwartet. Klar, wir haben feste Termine. Aber jeden Tag kommen Überraschungen, weil wir natürlich auch so besondere Klienten haben. Momentan haben wir tatsächlich auch 16 Betten voll belegt. Darunter sind ganz unterschiedliche Menschen: Der Jüngste ist 18, der Älteste ist über achtzig. Allein die Altersspanne ist schon interessant. Die Älteren haben oft körperliche Erkrankungen: sie bekommen Pflege, es kommt ein Pflegedienst mit ins Haus. Da sind auch lebensverkürzende Erkrankungen mit dabei, wie Krebserkrankungen oder Herz- und Lungenerkrankungen. Diese Leute sind aber so lange hier zu Hause, dass sie sich oft auch wünschen, am Ende ihres Lebens hier bleiben zu dürfen und hier zu sterben. Das geht nicht immer – je nach dem, wie groß die Pflegebedürftigkeit am Ende wird, können wir das manchmal nicht sicherstellen. Manche müssen ins Krankenhaus, manche müssen auch ins Pflegeheim oder ins Hospiz – im besten Fall. Aber der ein oder der andere ist tatsächlich auch schon hier verstorben. Manchmal überraschend, manchmal aber auch so, dass wir es wussten und uns darauf einstellen konnten und sogar dabei waren. Mit den Älteren haben wir nicht mehr wirklich viele Ziele, außer, dass sie hier noch ein gutes, menschenwürdiges Leben führen. Dass man schaut, dass sie gut angebunden und medizinisch versorgt sind. Dass man ihnen hilft beim Zimmerreinigen und dergleichen. Und dass man einfach für sie da ist, auch mal mit dem Rollstuhl hinausfährt und was man so mit ihnen machen kann. Dann haben wir auch die etwas jüngeren Menschen, in der Altersgruppe 30 bis 50. Zwei Menschen unter ihnen gehen auch arbeiten: der eine in Vollzeit, der andere in Teilzeit. Für sie suchen wir als langfristiges Ziel natürlich auch wieder eine eigene Wohnung. Sie sind nunmal gestrandet, auch ein wenig Opfer der Corona-Pandemie gewesen. Bei einem wurden bspw. Anträge nicht bearbeitet und man konnte nicht rein ins Amt, um ihnen mal auf die Füße zu treten – dann war die Wohnung weg. Er hatte Mietschulden und – flog raus! Dann war auch die Arbeit weg und er musste sehen, wo er bleibt. Aber das sind Menschen, wo wir gucken, was sie noch mitbringen. Haben sie Schulden? Dann geht es zur Schuldnerberatung und wir schauen, ob ein Insolvenzverfahren beginnt, sodass sie in drei Jahren schuldenfrei sind. Dann können sie vielleicht auch neu starten. Die noch jüngere Altersgruppe zwischen 18 und 30 bringt ganz oft eine Drogenproblematik mit. Das sind für mich tatsächlich die schwierigsten Klienten. Sie haben oft schon angefangen, Drogen in ihrer Jugend zu nehmen. Meistens sprechen wir von Marihuana, manchmal auch von einer Mehrfachabhängigkeit – also man nimmt einfach alles, was man für Geld kriegen kann. Es ist unglaublich schwer, mit diesen Menschen zu arbeiten, weil sie keine Termine und Absprachen einhalten. Sie haben keine Ziele in ihrem Leben. Sie bringen nichts mit – vielleicht gerade noch einen Schulabschluss. Aber mehr ist da nicht. Da müsste man so viel erreichen, weil man mit 18 ja nicht hier stranden und sagen kann: Ich bleibe jetzt hier, bis ich tot bin oder achtzig werde. Mit ihnen erreichen wir am wenigsten, das ist oft frustrierend. Für sehr junge Menschen ist oft auch noch das Jugendamt zuständig, es ist auch der Kostenträger. Eigentlich gehören sie aber in eine andere Art Einrichtung. Irgendwie findet sich für sie aber kein Platz, sie sind Systemsprenger. Sie sind überall schon herausgeflogen. Sie halten sich eben an fast nichts. Wir haben hier sehr wenig Regeln. Es gilt absolutes Alkohol- und Drogenverbot im Haus. Klar, manchmal klappt es nicht, da bringt schon mal jemand was mit. Gerade bei Drogen ist es sehr einfach, eine Flasche Bier ist schon etwas schwieriger. Man muss auch um 23 Uhr zu Hause sein, ansonsten muss man bis 6 Uhr warten und woanders schlafen. Gewalt ist natürlich auch ein Tabuthema: Wer jemanden angreift, muss gehen. Ansonsten haben wir einen superlangen Atem. Hier herauszufliegen ist schon echt schwierig. Das heißt, wir haben diese Menschen oft auch sehr lange. Wir müssen für den Kostenträger jedes halbe Jahr Hilfepläne schreiben, in denen wir beschreiben, welche Probleme vorhanden sind, welche Ziele wir verfolgen und wie wir die Probleme lösen wollen. Mit diesen Menschen ist alles nur sehr kleinschrittig zu erreichen. Man kann sich keine großen Ziele setzen, das ist manchmal sehr anstrengend.
Kleine Fortschritte und Vernetzung mit anderen Einrichtungen
göhört: Es gibt ja auch die Drogenberatung in der Innenstadt…
Gulde: Genau. Wir arbeiten auch schon sehr gut vernetzt, sowohl mit Ärzten und Fachkliniken als auch mit Kolleginnen und Kollegen in anderen Bereichen. Beispielsweise mit der Drogenberatung, Obdachlosenhilfe oder mit psychiatrischen Wohnheimen. Man guckt schon, ob man Betroffene auch woanders hin vermittelt. Dadurch, dass die, die bei uns auftauchen, schon so eine lange „Karriere“ haben – also beispielsweise dreißig Jahre Psychiatrieakte mitbringen – und alle darüber verzweifelt sind und „Wir wissen nicht mehr weiter“ sagen, ist es oft schwer. Manchmal ist das dann hier die Endstation. Das kann natürlich für einen jungen Menschen eigentlich nicht sein. Da müssen wir irgendwie weiterkommen. Manchmal haben wir noch gesetzliche Betreuer mit dabei, die vom Gericht eingesetzt werden, oder ganz selten auch die Ambulante Jugendhilfebetreuung, die einfach noch viel mehr mit jungen Menschen machen kann. Sie müssen ja überall mit begleitet werden, sie können ja kaum einen Termin alleine wahrnehmen. Da kommen sie gar nicht an. Das ist für uns mit 1,5 Stellen Sozialer Arbeit überhaupt nicht leistbar bei 16 Leuten. Wir müssen schon zu Arztbesuchen begleiten – das ist dann auch schon ein halber Tag, der weg ist. Wenn wir dann noch jeden Jugendlichen oder jungen Erwachsenen zum Amt oder zum Vorstellungsgespräch begleiten müssten, würden wir das gar nicht schaffen. Manchmal wird noch eine zusätzliche Hilfe bewilligt. Das ist dann auch gut so. Aber es dauert. Es dauert Monate, bis man irgendwo einen kleinen Fortschritt sieht.
göhört: Was wäre so ein Fortschritt?
Gulde: Na ja, ein Fortschritt wäre zum Beispiel, wenn man sich nochmal entscheidet, zur Schule zu gehen und einen höheren Abschluss zu erreichen. Oder überhaupt einen Abschluss. Oder wenn man sich dazu entscheidet, in eine Tagesklinik zu gehen, um für sich eine eigene Tagesstruktur zu bekommen. Oder überhaupt einmal einen Arzt zuzulassen, der die Medikamente einstellt – auch das ist manchmal schon eine Hürde. Nach dem Motto: „Ich habe schon so viel in meinem Leben gekriegt, hat alles nichts geholfen. Die Ärzte waren doof, die wollten mir immer nur ein Rezept geben, die haben mir nie zugehört.“ Solche Sachen hören wir ganz oft. Wenn Menschen hier ankommen, muss man ja Anträge für die Gelder stellen. Man muss Berichte schreiben. Oft fehlen dann Papiere, Kontoauszüge sind nicht da. Oder es gibt keinen Ausweis. Auch das ist oft eine große Hürde, bis man das gemeinsam geschafft hat, bis endlich ein Termin im Rathaus geklappt hat und ein Ausweis beantragt ist. Das ist für manche tatsächlich unglaublich schwer.
„Es gab Unterschriftsaktionen, sie wollten Obdachlose nicht in ihrem Viertel haben“: Resonanz der Bevölkerung über die Jahre
göhört: Wie sieht die Resonanz der Bevölkerung auf das Wohnheim aus?
Gulde: Auch das hat sich sehr geändert. Ich war einmal im Stadtarchiv und habe dort alte Berichte gelesen, wie es war, als die Heilsarmee in dieses Haus umziehen sollte. Die Bürger dieses Viertels haben sich sehr dagegen gewehrt. Es gab Unterschriftsaktionen, sie wollten Obdachlose nicht in ihrem Viertel haben. Zu der Zeit war ja auch noch die alte JVA in Betrieb und es gab auf der anderen Seite noch die Landeszentralbank. Das war natürlich eine spannende Kombination. Die Bürger haben dann schon befürchtet, dass das schief geht. Ich weiß, dass die Bürger damals ganze 580 000 Mark gesammelt und der Stadt als Spende überreicht haben, mit der Bitte: „Baut doch bitte für die Heilsarmee etwas am Rande der Stadt.“ Das ging aus den Unterlagen im Stadtarchiv hervor, wo ich doch überrascht war. In den Jahren bevor ich kam, war in dem Haus hier sehr, sehr viel Trubel. Es gab auch immer wieder Polizeieinsätze. Die Menschen waren ja nur kurz hier, niemand kannte sie so richtig. Viele waren gewalttätig. Dann gab es hier auch mal das große Geschrei, auch nachts, weil die Nachtruhen wohl nicht eingehalten wurden: Die Betrunkenen lagen am Wall und vor dem Haus. Es war wohl nicht schön. Wir haben das dann anders geregelt. Wir haben festgelegt, dass, wer sich partout nicht an die Regeln halten will und die Nachtruhe stört, auch gehen muss. So machen wir es auch heute noch. Es gibt einen ganz kleinen Teil an Menschen, den wir grundsätzlich nicht aufnehmen. Das sind auch Menschen, die von synthetischen Drogen abhängig sind. Beispielsweise Flex, was hier in Göttingen groß ist, ein ähnlicher Wirkstoff wie Crystal Meth. Es verändert die Psyche unglaublich schnell und macht sofort abhängig. Solche Menschen sind hochgradig selbst- und fremdgefährdend. Wir hatten einmal jemanden, der uns nach ein paar Monaten aus dem Fenster gesprungen ist. Er hat überlebt, aber es war dann klar, dass wir das nicht leisten können. Es stört dann auch alle in der Nachbarschaft – solche Menschen sind unberechenbar. Die Resonanz im Viertel war wohl lange Zeit gegen uns. Das war auch noch so, als ich 2010 hierherkam. Wir hatten wenig Kontakt zu den Menschen, die hier wohnen. Im besten Fall haben sie uns ignoriert, aber es war kein Miteinander. Über die Jahre hat sich das sehr geändert: Wir sind jetzt im Viertel anerkannt, sind auch auf die Nachbarn zugegangen. Auch in der Corona-Zeit hat man geguckt, wer so im Nachbarhaus wohnt, wer vielleicht alt ist und nicht mehr alleine einkaufen gehen kann. Wir durften ja raus, mussten einkaufen und haben den Leuten ihre Sachen mitgebracht. Wir übernehmen für die Nachbarin gleich nebenan den Winterdienst, denn sie ist schon über neunzig. Man stellt die Mülltonnen heraus, man ist ansprechbar, wenn mal etwas sein sollte. Das ist schon gut. Es gibt jetzt auch viele soziale Initiativen hier im Viertel. Auch mit ihnen haben wir uns inzwischen gut vernetzt und stehen zusammen. Sie haben sich öffentlich auch sehr für uns eingesetzt mit einem offenen Brief im letzten Jahr, wonach diese Einrichtung doch unbedingt im Viertel bleiben und erhalten werden muss und dass die Arbeit wichtig ist. Das macht schon Spaß, auch diese Wertschätzung zu sehen. Die Menschen, die hier wohnen, sind vielleicht manchmal im Stadtbild auffällig. Die Mehrzahl derer aber, die hier wohnen, sind hier zu Hause und überhaupt nicht mehr auffällig. Sie wollen hier in Ruhe leben. Klar, der ein oder andere trinkt seinen Alkohol draußen und kommt hier auch mal betrunken rein, aber wir sorgen dafür, dass dann auch Ruhe ist. Er geht in sein Bett, schläft weiter, gut so. Die wenigsten sind so, dass es der Nachbarschaft nicht zumutbar wäre. Das passiert unter den Übernachtenden natürlich eher mal: Die Polizei bringt jemanden ordnungsrechtlich bei uns unter – man weiß nichts von diesen Menschen. Dann schluckt abends jemand oben auf seinem Zimmer seine Pille und dann geht es los. Bei solchen Fällen gibt es auch mal einen Polizeieinsatz, klar, das ist nicht auszuschließen. Manchmal muss man Leute auch durch die Polizei herausholen lassen, aber das sind Einzelfälle.
„In Berlin bietet eine Einrichtung auch kontrolliertes Trinken an“: Vernetzung in Deutschland
göhört: Gibt es auch eine deutschlandweite Vernetzung der Wohnungsloseneinrichtungen?
Gulde: Die Einrichtungen, die zur Heilsarmee gehören, sind innerhalb Deutschlands sehr gut vernetzt. Wir fahren auch jedes Jahr einmal alle zusammen auf eine Tagung, wo wir Fortbildungen bekommen und Referenten zu verschiedenen Themen referieren. Die Tagung war auch gerade erst im Mai. Man trifft sich dann an einem Ort und übernachtet dort auch. Bis zu fünf Tage dauert so eine Tagung. Wir haben unsere Zentrale in Köln. Dort befinden sich auch unsere Vorgesetzten. Von dort wird natürlich auch vieles vorgegeben und geregelt. Von dort kriegen wir auch Informationen, wenn wir mal nicht weiterwissen. Wir kennen uns alle ziemlich gut. Corona hat das natürlich ein Bisschen ins Wanken gebracht: Kollegen, die als Leitung in irgendeiner Einrichtung neu angefangen haben, kennt man zum Beispiel noch gar nicht, wenn man sie – wenn überhaupt – nur online gesehen hat. Jetzt läuft das natürlich langsam wieder in Präsenz an. Es ist schon spannend, weil die Abläufe in jeder Einrichtung anders sind. Die Bundesländer haben andere Vorgaben und es gibt andere Schwerpunkte in der Arbeit. In Berlin sind beispielsweise noch ein Kindergarten und ein Pflegeheim, die zur Heilsarmee gehören. Manche bieten auch andere Programme an. In Berlin bietet eine Einrichtung auch kontrolliertes Trinken an. Es geht also nicht mehr um die Abstinenz im Haus, sondern um kontrolliertes Ausgeben von Alkohol. Das ist auch total spannend. Das haben wir hier in der Coronazeit auch getan, als die Menschen einfach gar nicht auf die Straßen gehen durften. Man konnte ja nicht sagen: „Jetzt musst du aufhören zu trinken!“ Das würde nicht unbedingt funktionieren. Auch, wenn jemand im Sterben liegt, sind wir natürlich nicht so streng. Wenn jemand im Sterben ein Bier haben und trinken möchte, soll er es auch haben. Darüber müssen wir nicht reden. Das ist normal, dass das hier nicht verboten ist. Wir gehen da schon sehr individuell vor.
„Dann kam es aber heftig“: Corona-Ausbruch im dritten Jahr mit heftigen Wirkungen

göhört: Wir gehen nochmal kurz zur Coronazeit über. Wie war das so hier im Haus?
Gulde: Die Coronazeit war eine unglaublich anstrengende Zeit. Zum einem haben wir natürlich alles versucht, damit Corona draußen bleibt, denn wir haben ja die Alten und Vorerkrankten. Die Stadt hat sehr, sehr lange gebraucht, die Impfungen hier zu veranlassen. Alle Einrichtungen waren bereits durchgeimpft und erst mit viel Nachdruck kam das Impf-Team in unser Haus. Es gab rechtlich kaum Vorgaben, denn wir gehörten rechtlich weder zu den Pflegeeinrichtungen noch zu den Behinderteneinrichtungen. Die Wohnungslosenhilfe war einfach nicht geregelt. Wir mussten ein eigenes Hygienekonzept schreiben – aber ohne wirkliche Vorgaben. Das heißt, wir konnten uns aussuchen, was wir uns von wo abschauen. Es gab auch keine Teststrategie. Es gab einfach nichts. Zu den wenigen Auflagen zählte zum Beispiel: „Wer nicht geimpft ist, muss bei Kontakt zu Corona-Infizierten sofort 14 Tage zu Hause bleiben.“ Das führte dann dazu, dass Personal, das zwar nicht geimpft, aber gar nicht infiziert war, ständig ausfiel, weil es in Quarantäne geschickt wurde. Sie hatten nicht hier im Haus Kontakte, sondern privat. Wir waren wirklich manchmal am Limit. Die ersten zwei Jahre hatten wir hier überhaupt keinen Corona-fall. Wir haben es irgendwie hingekriegt. Wir haben versucht, dass die Bewohner möglichst wenig rausgehen, damit auch die Kontaktbeschränkungen eingehalten werden. Dann haben wir ganz viele Freizeitaktivitäten angeboten. Spielenachmittage dauerten so manchmal bis in die Nacht, weil wir nur Monopoly gespielt haben. Wir haben in der Zeit eine unglaublich große Spielesammlung aufgebaut. Wir haben die Menschen beschäftigt, indem wir etwas gemeinsam gemacht haben. Wir haben uns immer als ein Haushalt gesehen – die Leute hier haben Gemeinschaftsbäder. Wir haben uns Mitarbeiter, die hier ebenfalls wohnen, nicht als zweiten Haushalt gesehen. Deswegen hatten wir hier im Haus auch keine Maskenpflicht – nur, wenn es zum Ausbruch kam. Einen Ausbruch hatten wir erst im dritten Jahr – dann kam es aber heftig. Wir haben eine Runde nach der anderen gedreht. Ständig. Alle paar Wochen gab es einen Ausbruch. Einer kam nach Hause, hatte Corona, und dann war klar, dass Corona sich auch durch die Gemeinschaftsbäder verteilte. Das Gesundheitsamt führte Reihentestungen durch. Jedes Mal fanden sich neue Infizierte. Das war sehr, sehr anstrengend. Tatsächlich haben wir auch zwei Mitbewohner verloren. Einer verstarb erst im Nachhinein, da war die Coronainfektion wohl der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Er starb nachher an den Folgen, als er eigentlich wieder gesund war. Ein anderer wurde letztes Jahr infiziert. Der Pastor hat das Virus unbemerkt und ohne, dass er es wusste, mit auf die Weihnachtsfeier gebracht und damit einen Mitarbeiter und einen Bewohner infiziert. Der Bewohner war zu dem Zeitpunkt mit etwa 84 Jahren der älteste im Haus. Er starb innerhalb von 24 Stunden auf seinem Zimmer. Er hat das PCR-Test-Ergebnis gar nicht mehr mitgekriegt. Beim Aufstehen hatte sich eine Thrombose gebildet, er ist einfach tot umgefallen. Das war heftig, denn dieser Mensch hatte ganze 33 Jahre hier gelebt. Er fehlte dann auch einfach. Die Coronazeit war eine super anstrengende Zeit. Wir sind auch als Familie in der Zeit nur einmal zwei Wochen weggefahren. Wir waren immer hier, haben Tag und Nacht aufgepasst und die Leute auf ihren Zimmern versorgt, wenn sie infiziert waren, damit sie nicht noch groß im Haus herumlaufen mussten, abgesehen vom Bad. Manchmal hatten wir sechs Infizierte auf einmal, das war dann schon echt anstrengend.
„Wir wollen hier nicht zwangsmissionieren oder so. Wir wollen den Menschen einfach helfen“: Zur Rolle des Glaubens
göhört: Das kann ich mir vorstellen. Ich habe noch eine Frage zu William Booth und dem Glauben innerhalb der Einrichtung. Was für eine Rolle spielt er hier im alltäglichen Leben?
Gulde: Ich glaube, unser Gründer spielt immer noch eine große Rolle. Auch für mich persönlich, weil er nicht weggeschaut hat. Er war sich auch nicht zu schade, für die Menschen einzustehen, ihnen eine Stimme zu geben und für sie zu kämpfen. Das braucht es auch heute manchmal, denn die Wohnungslosenhilfe ist nicht gerade das Steckenpferd der Politik – von keiner der Parteien. Man will Wohnungslosigkeit „abschaffen“ – ein super Ziel. Wir als Akteure in diesem Bereich aber sagen: Das wird hier so nicht funktionieren. Housing first ist auch nicht das super Konzept, das alle Probleme löst, denn dafür bräuchte man erstmal Wohnungen. Und die haben wir nicht. Der christliche Glaube spielt bei uns auch eine große Rolle. Wir haben ein christliches Leitbild, das auch allen Mitarbeitern ausgehändigt wird. Man muss nicht Christ sein, um hier zu arbeiten, aber man muss sich konform erklären, also nicht gegen das Leitbild stellen. Wenn man also mit dem christlichen Glauben ein großes Problem hat und auch öffentlich dagegenredet, dann haben wir hier auch ein Problem. Das funktioniert dann eben einfach nicht. Das Leitbild hilft uns auch im Umgang miteinander. Wie gehe ich als Vorgesetzte zum Beispiel mit meinen Mitarbeitern um? Wie groß mache ich die Hierarchie hier? Hier ist sie sehr klein. Ich bin mir nicht zu schade, die Putzfrau zu vertreten und die Klos zu putzen, wenn sie ausfällt. Ich gehe auch in die Pforte, wenn der Spätdienst ausfällt. Diese Arbeiten mache ich auch alle selber. Es war mir am Anfang, als ich hierhergekommen war, auch wichtig, bei jedem Dienst einmal mitzulaufen, um zu sehen: Was tun denn meine Mitarbeiter da eigentlich? Oder auch: Wie gehe ich mit meinen Mitarbeitern um, wenn sie krank sind? Was mache ich, wenn sie Sorgen und Nöte haben? Wie sieht es bei finanziellen Nöten aus? Dann finden wir immer eine Lösung. Das ist mir sehr wichtig. Das ist ein wenig diese christliche Nächstenliebe, die ich zumindest für mich auch leben möchte. Ich bin Christin, ich habe mich bewusst für Jesus Christus entschieden, als ich 17 war. Das hilft mir persönlich, mit dem ganzen Elend hier auch umzugehen. Es ist nicht immer so leicht, auch von diesen Abgründen zu hören, wenn Menschen erzählen, was für Leid ihnen in ihrem Leben widerfahren ist und was dazu geführt hat, dass sie auf die Straße gegangen sind. Dass sie kein Zuhause mehr haben. Welch fürchterliche Schicksalsschläge wir hier manchmal hören… Es ist auch nicht einfach, immer wieder mit dem Tod konfrontiert zu werden, wenn jemand stirbt. Oder auch, mit Angehörigen zu tun zu haben, die man bis dato gar nicht kannte und die dann auftreten, wenn es um die Beerdigung geht. Wir beerdigen die Menschen auch selbst. Ich habe Menschen schon ohne Pastor beerdigt. Auch Mitarbeiter, die gestorben sind. Es ist ein sehr enges Miteinander hier und das christliche Leitbild gibt dafür einfach einen Rahmen, der das hier begleitet und der auch hilft. Der Glaube ist für mich ganz wichtig. Aber es ist nichts, wo ich sage: „Ich muss das jetzt jedem aufzwängen!“ Wir bieten Bibel-Gesprächskreise und Fahrten zu Gottesdiensten an. Es ist schön, wenn jemand daran teilnehmen möchte. Wenn jemand das nicht möchte oder einen anderen Glauben hat – beispielsweise haben wir auch schon muslimische Menschen hier gehabt –, dann ist das auch okay. Das lassen wir ihnen auch. Wir wollen hier nicht zwangsmissionieren oder so. Wir wollen den Menschen einfach helfen. Wir tun das aus christlicher Nächstenliebe heraus. Aber wir sind nicht da, um irgendwem mit der Keule zu drohen und zu sagen: „Hey du, also wenn du nicht betest, gibt es kein Taschengeld!“ Solche Geschichten kursieren tatsächlich über die Jahrzehnte vor meiner Zeit – auch über dieses Haus. Ich kann nicht mal sagen, dass das gelogen ist. Vielleicht war es tatsächlich so. Aber das ist auch keine christliche Nächstenliebe. Ich kann keinem was aufstülpen. Ich will ihm in seiner Not helfen. Wenn er dann von Gott hören möchte, erzähle ich auch gerne davon. Wenn er das nicht möchte, ist das auch okay. Ich bin trotzdem da. Wir machen da keinen Unterschied.
göhört: Ich danke Ihnen für das Interview.
Das Interview führte Luis Pintak im Juni 2023.
Eine Übersicht zu Suchtberatungsstellen in Göttingen und Umgebung findet sich auf der Website der Stadt Göttingen.
