Englishmen in Berlin

Karsten Gräf

Das Finale der Bolz-EM in Berlin liest sich auf dem Papier zunächst vielversprechend. Spanien gegen England. Zwei der größten Fußballnationen des Planeten treten gegeneinander an. Aber so groß wie ihre Namen auch sein mögen, der jeweilige Turnierverlauf könnte nicht unterschiedlicher sein. So hat Spanien bislang jedes Spiel gewonnen. Unter anderem haben sie Deutschland im Spiel um Mallorca besiegt und es im Halbfinale ausgenutzt, dass sich Frankreichs starke linke Seite neuerdings bloß in ihrem Parlament und nicht auf dem Rasen zeigt. Die Engländer hingegen haben das Turnier im Schlummermodus verbracht: zwei Unentschieden in der Gruppenphase, in der Verlängerung die Slowakei mit 2:1 geschlagen, die Schweiz im Elfmeterschießen und gegen Holland erst in der letzten Spielminute das Siegtor geschossen.

In der Mall of Berlin steht die Unterhaltungskünstlerin Elle Brooke in Begleitung ihrer Entourage vor einem Regal Spiegelreflexkameras. In der Onlinewelt präsentiert sie sich – oft leichtbekleidet – als Manchester City-Supporterin. I would do the whole squad for the Euros win, sagt die Britin. Es ist nicht untypisch, dass die Passion und Aufopferung der englischen Fans für den sportlichen Erfolg ihrer Nation große Dimensionen annehmen. Fußball ist dabei ein heiliges Gut – ihr heiliges Gut. Dies erkennt man vorerst an ihrem ausgefallenen Aussehen. Auf den Straßen Berlins wimmelt es nur so von Menschen in Ritterkostümierungen; die als Cape fungierenden Fahnen und kriegerische Gesichtsbemalung dürfen natürlich auch nicht fehlen. Einige Brexit Geezer gehen sogar so weit und haben sich den noch nicht feststehenden Sieg der Europameisterschaft unter die Haut stechen lassen.
I hope, they won’t bottle it. It’s coming home!

Das Ritz Carlton dient den Three Lions an diesem Wochenende als ihr Home. In der überschaubaren Lobby hat sich eine Menschentraube um die dortige Treppe gebildet. Vor dieser stehen zwei Sicherheitsleute, wie Wachleute vor dem Buckingham Palace. Sie halten die fordernden Fans davon ab, weiter ins Hotel zu dringen. Die englische Nationalelf ist womöglich besser bewacht als das Bundestagsgebäude vor wütenden Reichsbürgern. Hinter ihnen auf der Treppe steht ein etwas betagteres Staffmitglied der Mannschaft und genießt die ihm zuteilwerdende Aufmerksamkeit. Nach einiger Zeit kommt ein Hotelmitarbeiter und scheucht die Schaulustigen aus dem Hotel: Sie stören hier das Klima. Wenn Sie hier nicht eingecheckt sind, bitte ich Sie, unverzüglich von hier zu verschwinden.Die Gäste des Hotels tragen T-Shirts mit Strasssteinen und Gesichter aus Hyaluron. Es riecht nach Fisch.

Die Presse-Akkreditation hatte ich vor über einem Monat beantragt, am Vortag konnte ich diese nun endlich abholen. Musste ich bei dem Eröffnungsspiel und dessen Feier noch einen Polizisten anbetteln, um überhaupt in die Nähe der Fanmeile zu kommen, so kann ich nun mit einem Zettel, welcher in einer Plastikhülle um meinem Hals herumbaumelt, an der Schlange endloswartender Fußballenthusiasten vorbeistolzieren und habe einen halbwegs bierregensicheren Platz im Medienbereich mit Gratisverpflegung.

Vor meiner Ankunft haben schon einige Acts, unter anderem die Lochis, welche sich mittlerweile HE/RO schimpfen, auf der großen Bühne vor dem Brandenburger Tor ihr Talent unter Beweis gestellt. Nun sind es Maxwell und MORGEN, die das Meer aus Briten und Spaniern aufpeitschen wollen. Leider bestätigt ihr Auftritt bloß, dass deutsche Rapmusik international nicht so gut ankommt wie vor dem heimischen Publikum. Der einzige kurze Ansatz an Stimmung kommt auf, als die beiden „It’s Coming Home“ anstimmen, nur um nach wenigen Sekunden Jubel schnell den eigenen EM-Song zu spielen.

Für etwas mehr Faszination sorgen die Sugababes. Die britische Pop-Girlgroup wird mit den Worten „Das erste Mal durfte ich sie vor 20 Jahren erleben!“ vorgestellt. Wer, wo, wie, was singen wird, kann bei den vielen Neubesetzungen der Gruppe in den vergangenen Jahren wahrscheinlich keiner so genau sagen. Nachdem “About You Now” und “Push The Button” die letzten Töne aus der Playbackbox stoßen, erhebt sich inmitten der feiernden Fanmenge der Saxophonmann André Schnura und verleiht den Zuhörenden durch seinen langen Atem eine Gänsehaut am ganzen Körper. Schnura hat vor der EM seinen Job verloren und pfeift seitdem auf Fanmeilen in der gesamten Republik, sorgt für gute Laune und wirbt so für seinen Saxophon-Onlinehandel.

Die Hymnen: Genau wie bei der vorherigen Ansage der Spieltagsaufstellungen, wird die spanische niedergepfiffen. Ah, unfaire Fans also. Der Mensch in der Masse legt die feine englische Art unter Biergenuss ad acta, völlig klar. Es ist eine Art Brexit aus dem Knigge, wenn man so will. Ihre eigene Hymne wird mit voller Überzeugung mitgesungen, ja, viel mehr im Kanon mitgegrölt.

Anpfiff, es geht los, die Euphorie steigt noch einmal.
Nachdem klar wird, dass die Spanier nach den K.O.-Spielen der vergangenen Wochen noch immer nicht müde sind und hochauffahren, was vielen auf der Meile missfällt, wirkt die Stimmung etwas getrübt. Das Spiel beginnt in Langeweile zu verfallen, ein junger Engländer sammelt den Becherpfand seiner Landsleute zusammen und gibt diesen ab. I got 143 pounds, erzählt er stolz.

Als Nico Williams in der 47. Minute dann das 1:0 für die Spanier erzielt, kippt die Stimmung endgültig. Einige Engländer, die offenbar den Alkoholgehalt des deutschen Bieres unterschätzt haben, kommentieren das Spiel: REF, THAT WASN’T A FOUL YOU BLOODY CUNT! SHITTY PLAYERS! FOCK ‘EM  ALL! HARRY KANE YOU FOCKIN‘ SHITHOLE! Eine gut gelaunte fröhliche Menschenmenge kann etwas Schönes sein – wenn aber die Laune der Masse kippt, wird sie bedrohlich. Solange man der Sieger ist, fällt es einem leicht, den Gegner mit Respekt zu behandeln. Verlierenkönnen braucht Charakter. Der englische Applaus ist nur noch zu hören, wenn kurzweilig Prinz William oder sonstige geachtete Briten auf dem Großbildschirm gezeigt werden.

Minute 73: Cole Palmer schießt den Ausgleichstreffer. England liegt sich in den Armen. Tor von Palmer; Harry Kane steht nicht mehr auf dem Platz, es gibt noch Hoffnung. Im vorderen Bereich der Fanmeile klettert ein beflaggter Mann auf eine Laterne, weitere zünden ein Bengalo. Diese Euphorie hält allerdings nur 13 Minuten an. Oyarzabal steht nicht im Abseits, trifft zum 2:1 und sticht damit direkt in das Herz der Pöbelnden.

Pünktlich zur 90+dritten Minute pfeift Schiedsrichter François Letexier die Partie ab. Die Antwort auf die Frage english or spanish? ist geklärt. Das neue Zuhause des europäischen Fußballs ist Spanien. Die feiernden Spanier laufen vor jede Kamera, die sie finden können, geben Interviews, drehen Tiktoks. Die Engländer treten mit gesenktem Kopf den Rückzug an. Carlo, ein Sportjournalist aus Manchester, sucht nach einer Erklärung für die englische Finalniederlage. It’s the Kane curse. Well, whatever.

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