von Karsten Gräf
Waren bei den Olympischen Spielen 1896 in Athen noch gar keine Frauen zugelassen, so stieg der Anteil an weiblichen Teilnehmenden mit den Jahren zunächst schleppend, aber stetig an. 2020 verabschiedete das Internationale Olympische Komitee (IOC) die Regel, dass es pro Nation einen Fahnenträger und eine Fahnenträgerin geben müsse; so erreichte Tokio eine Frauenquote von 48%. Passend dazu ist die Olympiade in Paris die erste mit einer Geschlechtsparität. Es sind exakt genauso viele Frauen wie Männer, die an den Spielen teilnehmen (je 5250 von 10.500).
Eine explizite Regel, dass jedes Nationale Olympische Komitee (NOK) die gleiche Anzahl von männlichen wie weiblichen Teilnehmenden an den Start schicken muss, gibt es bislang nicht. Dies macht die Teilnahme von drei Athletinnen im afghanischen Team so erstaunlich. Das Paradoxe: die drei Frauen und zwei der Männer leben im Exil. Denn insbesondere die Frauen, die beiden Radfahrerschwestern Yuldoz und Fariba Hashimi sowie die Sprinterin Kimia Yousofi, dürfen in ihrem Heimatland nicht ihrer sportlichen Leidenschaft nachgehen. Seit des Truppenabzugs der NATO aus Afghanistan und der darauffolgenden Machtübernahme durch die Taliban im Jahr 2021 sind die Rechte und das öffentliche Leben der afghanischen Frauen drastischen eingeschränkt. Sie sind verbannt aus jeglichen Bildungseinrichtungen; auch Freizeitaktivitäten und Sport sind für Frauen komplett verboten.
Die afghanischen Sportlerinnen und Olympia
Erstmals bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen traten unter den Sportlern Afghanistans Frauen an – die Judoka Friba Razayee und die Leichtathletin Robina Muqimyar. Vier Jahre später trat Muqimyar als einzige Frau der vier afghanischen Sportler in Peking an. Neben ihr sollte ursprünglich mit Mahbooba Ahadgar eine weitere Frau teilnehmen, doch die 1500-Meter-Läuferin verschwand Anfang Juli 2008 spurlos aus dem Trainingslager in Italien. Zunächst war man von einer Entführung ausgegangen, schließlich meldete sich die 19-jährige telefonisch bei ihrer Mutter. Sie habe Morddrohungen von islamistischen Extremisten erhalten und sei deshalb aus Todesangst aus dem Lager geflohen und möchte nicht zurückkehren, berichtete der SPIEGEL.
In den darauffolgenden Olympischen Wettbewerben trat jeweils eine Frau für Afghanistan an. Bislang konnte Afghanistan in seiner Olympia-Historie nur zweimal Bronze für sich gewinnen – die beiden Medaillen gewann der Taekwondo-Kämpfer Rohullah Nikpai.
In diesem Sommer holte die Parasportlerin Zakia Khudadadi Bronze in Taekwondo. Sie stammt aus Afghanistan, tritt aber für das Refugee Paralympic Team in Paris an. Sie lebt mittlerweile in Österreich. Khudadadi gewann die erste Medaille überhaupt für das Flüchtlingsteam bei den Paralympischen Spielen.
Afghanistan und das IOC
Bereits im Jahr 1999 schloss das IOC Afghanistan von den Olympischen Spielen 2000 in Sydney aus. Die Gründe hierfür waren der Bürgerkrieg in Afghanistan und das viel zu kleine Budget von 30.000 US-Dollar des NOKs. Schon damals fiel das Land mit der Diskriminierung von Frauen auf, wie durch Bekleidungsvorschriften der ersten Taliban-Regierung. Nach dem Fall der Taliban-Regierung wurde Afghanistan 2002 wieder im IOC aufgenommen.
Vor den Spielen in Paris forderte das IOC die Taliban-Regierung als Teilnahmebedingung vermehrt dazu auf „die derzeitigen Beschränkungen des Zugangs zum Sport für Frauen und junge Mädchen in Afghanistan aufzuheben“. Passiert ist seitdem allerdings nichts.
Trotz dieser Umstände durfte Afghanistan bei den 33. Olympischen Spielen mit der schwarz-rot-grünen Fahne ins Stadion einziehen. Während nach dem Machtwechsel in Afghanistan und dem damit verbundenen Sportverbot für Frauen bei den Vereinten Nationen noch Stimmen laut wurden, die das Land wegen seiner Geschlechter-Apartheid von internationalen Sportwettbewerben ausschließen wollten, ist das Sportverbot für Frauen mittlerweile zur Normalität geworden, und auch die Boykottaufrufe sind leiser geworden.
Um den sechs Athletinnen und Athleten die Teilnahme in Paris zu ermöglichen, arbeitete das IOC mit dem nationalen Komitee Afghanistans zusammen. Dessen Mitglieder leben größtenteils im Exil. Die De-facto-Regierung, die international bisher keine Anerkennung erhalten hat, wird in Frankreich jedoch nicht akzeptiert, wie der IOC-Sprecher Mark Adams betonte: „Kein Vertreter der Taliban-Regierung wird für die Olympischen Spiele akkreditiert“, erklärte er. Auch die von der Regierung verwendete Flagge mit dem islamischen Glaubensbekenntnis auf weißem Hintergrund wird in Paris nicht zu sehen sein.
Die Taliban erkennt hingegen nur die drei männlichen Athleten als offizielle Vertreter Afghanistans an. „Nur drei Athleten vertreten Afghanistan“, sagte Atal Mashwani, Sprecher der Sportdirektion der Taliban-Regierung, und lieferte auch gleich eine Erklärung: „In Afghanistan wurde der Sport für Frauen eingestellt. Wie kann eine Frau in die Nationalmannschaft kommen, wenn sie keinen Sport treibt?“
Olympia als Bühne des Protests
Nicht nur die Taliban sind ungern in Paris gesehen, auch politische Protestaktionen. Neben der Sprinterin Kamia Yousufi gibt die Breakdancerin Talesh (Refugee Olympic Team) den Frauenrechten in Afghanistan eine Bühne bei den Spielen. So zeigte sie sich nach ihrer Choreo in einem blauen Umhang mit der Aufschrift „Free Afghan Women“, um auf die Missstände in ihrem Land aufmerksam zu machen. Die World DanceSport Federation disqualifizierte die Athletin daraufhin wegen „des Zeigens seines politischen Slogans“. In der Vorqualifikation ist sie allerdings bereits sportlich ausgeschieden.
Politische Botschaften sind während olympischer Wettkämpfe untersagt. Die IOC hat vor den Spielen in Tokio die dafür vorgesehene Regel 50 der Olympischen Charta modifiziert. Diese lautet im Allgemeinen: “No kind of demonstration or political, religious or racial propaganda is permitted in any Olympic sites, venues or other areas.”
Nun sei politischer Protest möglich, solange die Prinzipien des Olympismus eingehalten werden, es sich „nicht direkt oder indirekt gegen Menschen, Länder, Organisationen und/oder ihre Würde richtet“ sowie andere Wettkämpfer:innen nicht in ihrer Vorbereitung gestört werden.
Der Vorwurf: Sportswashing
Ganz ohne die Politisierung des Sports finde die Olympia aber nicht statt, klagen Menschenrechtsaktivisten. Athletinnen tragen die Flagge eines Landes, in dem Sport für sie verboten ist. Allen voran steht die Judoka Friba Rezayee. Sie wurde selbst nach ihrer Teilnahme an den Spielen 2004 bedroht und musste daraufhin aus Afghanistan fliehen. Der ARD-Sportschau berichtet sie Anfang März: „Das ist Sportswashing. Das zeigt nicht die ganze Realität in Afghanistan und was mit den Frauenrechten dort passiert ist, mit den Menschenrechten und den Rechten von Athletinnen. Sie täuschen die Weltöffentlichkeit. Sie gaukeln vor, dass alles okay ist. Sie belügen die Menschen.„ Zudem schreibe der Olympische Dachverband in seiner Charta selbst davon, dass die Ausübung von Sport ein Menschenrecht sei und jedes Individuum Zugang zu Sport haben müsse und die ohne jegliche Diskriminierung. Auch die NOK-Repräsentanten im Exil seien wenig glaubwürdig, da diese Afghanistan repräsentieren, als sei noch immer die Republikanische Regierung Machtinhaber. Die aktuellen Probleme werden dabei außen vor gelassen.
Rezayee fordert die Suspendierung der Taliban-Regierung durch das IOC. Den drei afghanischen Olympiateilnehmerinnen legt sie nahe für das Refugee-Team anzutreten, da dies die Realität widerspiegle – die drei leben im Exil und seien somit Geflüchtete.
Dem Deutschlandfunk sagt sie: „Die Welt vergisst Afghanistan und die Welt vergisst die afghanischen Frauen. Wir kämpfen diesen Kampf gegen die Taliban allein. Wir haben festgestellt, dass selbst in Kanada die Aufmerksamkeit der Menschen nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine nachgelassen hat. Ich möchte darauf hinweisen, dass Russland in den siebziger Jahren in Afghanistan einmarschiert ist und Afghanistan besetzt hat. Auch wir haben unter Russland gelitten. Wir waren Opfer desselben totalitären Regimes. Wir können den Schmerz nachfühlen.“
Mit ihrer Organisation „Women Leaders“ kämpft Friba Rezayee für „echte“ Gleichberechtigung, versucht Frauen ihres Heimatlandes zu unterstützen und hilft ihnen mittels Bildungsstipendien in Kanada rauszukommen.
