Campino: Kästner, Kraftwerk, Cock Sparrer – Eine Liebeserklärung an die Gebrauchslyrik

Susan Sparn

Ein Tag nach dem Erscheinungsdatum von „Campino: Kästner, Kraftwerk, Cock Sparrer“ steht Campino, wie er lebt und liebt auf der Bühne des Göttinger Literaturherbstes. Zum 33. Mal wird hier in Göttingen die Gegenwartsliteratur eine Woche lang gefeiert und zählt dabei zu den fünf größten Literaturfestivals im deutschsprachigen Raum. Über das Göhört-Studierendenradio hatte Ich die Gelegenheit, live dabei zu sein.

Am Freitag, den 25.10.2024 um 19 Uhr war also der Frontman der Kultband „Die Toten Hosen“ Teil des äußerst abwechslungsreichen Programms – und zwar mit seinem neuen Buch „Campino: Kästner, Kraftwerk, Cock Sparrer – Eine Liebeserklärung an die Gebrauchslyrik“. Das Buch trägt somit den gleichen Titel wie seine Gastvorlesung an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf, die im vergangenen April stattfand. Am letzten Freitag war die ausverkaufte Sheddachhalle in Göttingen bunt gefüllt mit zahlreichen Toten-Hosen-Fans in passenden Toten-Hosen-Shirts und vielen Literaturinteressierten, wie Andreas Frege – alias Campino – es selbst ist.

Von Beginn an stand eine Gitarre auf der Bühne und viele Anwesende fragten sich, was wohl bei dieser Lesung zu erwarten ist, die wohlgemerkt nur in Göttingen, Köln und Hamburg stattfinden wird. Das Gitarren-Geheimnis wurde nach 5 Minütchen Verspätung gelüftet, als Campino zusammen mit seinem Bandkollegen und gleichzeitig gutem Freund Andreas von Holst – auch „Kuddel“ genannt – auf die Bühne kam.

Nach dem Einstiegsgedicht „An das Publikum“ von Kurt Tucholsky, in dem der kontroverse Vers ‚Sag mal, verehrtes Publikum: bist du wirklich so dumm?‘ gehäuft vorkam, räumte Campino sofort ein, dass er zum einen sein eigenes Publikum und zum anderen wie Tucholsky die politische und sozialkritische Gebrauchslyrik sehr liebt.

Gerade für seine politischen und sozialkritischen Liedtexte wird Campino sehr geschätzt. Damals wie heute rief er immer wieder dazu auf, gegen Faschismus und Rassismus und für die Demokratie sowie Pressefreiheit zu kämpfen. Auch vor Hass in den sozialen Medien warnte er im selben Satz. Danach folgte das ersehnte erste Lied „Helden und Diebe“ aus dem Jahr 1999, bei dem besonders die ersten Reihen laut miteinstimmten.

Doch auch die Gebrauchslyrik war Thema der Lesung. Unter dem Begriff versteht man sprachlich gut zugängliche Gedichte, die klar verständliche Aussagen zu zeitgenössischen Problemen machen und den Leser:innen somit praktischen Gebrauch bieten. Als Vorbild für Campino und ersten Kontakt zu dem Thema nannte er Erich Kästner. Er bezeichnete die Gebrauchslyrik als „[s]eine Lebenshilfe für den täglichen Gebrauch“. Er definierte sogar die mittlerweile 40 Jahre der Toten Hosen als solche. Eine echte Liebeserklärung also. Intuitive Textthemen über Liebe, Geborgenheit, Elternverhältnis und Erwachsenwerden stehen ganz oben auf der Liste, auch weil diese während der Nazizeit verboten waren. Die jungen Toten Hosen in DDR-Zeiten wollten anders als die Nachkriegsgeneration mit ausschließlich deutschen Texten die Musik neu und originell gestalten. Damit waren die Jungs aus Düsseldorf eine der wenigen Punkbands in der sowieso noch kleinen Punkszene in Deutschland.

Für Campino war zudem die Punk- und Rockmusik aus London der 70er Jahre prägend, da er selbst halb Brite ist und die Musik für Rebellion und Gesellschaftskritik steht. Musikalisch konträr zum Punk kommen die lyrischen und sozialkritischen Texte des Liedermachers Hannes Wader – ein weiteres Idol für Campino – als prägende Komponente dazu. Über ihn kam er auch auf seine Eltern zu sprechen, da Hannes Wader immer wieder dieses Verhältnis thematisiert. Und da wir uns in Göttingen befanden, wollte Campino trotz Zeitmangels über das Kennenlernen seiner Eltern sprechen: „Ohne die Stadt Göttingen gäbe es mich nämlich gar nicht“, sagte er nur dazu. Sein Vater Peter Frege war als Jura-Student an der Göttinger Universität AStA Vorsitzender, als er nach dem Krieg hier in die britische Zone stationiert wurde. Er gründete unter anderem das Zufluchtslager Friedland, was bis heute noch besteht.
Seine Mutter, die zunächst in Oxford studierte, sollte im Rahmen eines Austausches und zur Entnazifizierung den universitären Kontakt mit Deutschland stärken und kam somit an die Uni Göttingen, wo sie zwangsläufig stets Kontakt mit Peter als AStA Vorsitz hatte. Der Rest bleibt wohl Geschichte…

Über seinen Vater, mit dem Campino eine schwierige Beziehung pflegte, schrieb er 2012 – ein Jahr nach dessen Tod – „Draußen vor der Tür“. Diesen Song performte er am Literaturabend in Göttingen zusammen mit Kuddel als musikalische Unterstützung an der Gitarre. Auch das Lied „Nur zu Besuch“ spielte er, welches er anlässlich des Todes seiner Mutter 2001 innerhalb von zwanzig Minuten verfasste.

Insgesamt war der Abend mit großer Melancholie zur damaligen Punkjugend und zugleich mit starken politischen Aufrufen gefüllt. Als letztes großes Highlight des Abends entließ Campino sein geliebtes Publikum mit einem Hoffnungsschimmer für die Zukunft in Form eines gecoverten Songs: „You’ll Never Walk Alone“, der Hymne des FC Liverpools. Die 620 Zuschauenden verließen den Saal mit einem Lächeln auf dem Gesicht und dem Gefühl, zumindest einmal in Campinos Welt des Punks und der Gebrauchslyrik eingetaucht zu sein.

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