Von Veda Giesecke
„Fünf, Sechs, Sieben, Tap, ausdrehen und aufeinander zu!“ ruft eine laute Stimme vom
anderen Ende des Saals am Göttinger Hochschulsport. Die glitzernde Discokugel an der
Decke und die riesigen Spiegel an der Wand reflektieren das Bild tanzender Paare. Einige
setzen die gegebene Anweisung nahezu perfekt um, andere tun sich mit der Drehung noch
etwas schwer. Direkt vor mir hört jemand den Takt nicht, zum Nachteil des Partners, dessen
Zehen heute schon oft leiden mussten. Und von dort drüben ertönt lautes Gelächter und der
Tanz wird unterbrochen: das „Wischen“ war wohl etwas übertrieben. Der Bewegung wohnte
mehr Kraft inne, als die Hand des Partners halten konnte und so liegt das Opfer nun, ganz von
seinem Lachanfall überwältigt, mitten auf dem Boden.
Ich muss schmunzeln, doch ziehe sogleich die Brauen hoch, als an mir vorbei zwei
Musterschüler eine perfekte Figur tanzen. Beim Samba spielt sich ein ähnliches Bild ab: Es
erinnert an das Spielen von Maracas, wie die Studierenden ihre zu Fäusten geballten Hände
im Takt der Musik schütteln. Als alle den Beat erfasst haben, übertragen sie die
Handbewegung auf die Füße. An einzelnen Stellen sieht es aus wie Trampolinspringen und an
anderen tippelt der eine Partner dem anderen wie beim Gassigehen hinterher. Doch
entgegengesetzt dessen, wie man sich diese Szenerie nun vorstellt, sind all das absolute
Kleinigkeiten. Der Grundschritt der Paare sitzt und der Gesichtsausdruck allemal. Als die
Walzer-Musik erklingt, wünsche mir nichts mehr, als endlich mitmachen zu können.
Am Hochschulsport Göttingen gehört der Gesellschaftstanz zum fest eingespielten Programm.
Gelehrt werden die grundsätzlichen Turniertänze. Die Kurse zählen zu den beliebtesten und
teilnehmerstärksten unter Studierenden. Was man sonst nur von übenden Hochzeitspaaren und
Vorkonfirmanden kennt, scheint an der Uni Göttingen aus ganz anderen Gründen
anzukommen. Kursleiter Paul Schubert erklärt sich den hohen Andrang damit, dass
“Studierende einfach eine große Masse in Göttingen darstellen“. Die „gute Medienpräsenz“
des Hochschulsports sorge seiner Meinung nach außerdem für die vergleichbar vielen
Teilnehmenden im Gesellschaftstanz. Studierenden würden dadurch Möglichkeiten an
Sportarten aufgezeigt, an die sie vorher nie gedacht hatten. Standard und Latein bietet dann
eine tolle Gelegenheit, bestehende Fähigkeiten aufzufrischen, mit dem Partner ein
gemeinsames Hobby zu finden oder das Ballgefühl zu genießen, dass es sonst kaum noch
gibt.
Ähnlich geht es der 25-jährigen Masterstudentin Sophie. Wie viele hatte sie vor ihrer
Konfirmation schon einmal einen Tanzkurs besucht. Nun will sie dem Ganzen in der Level-
1Gruppe am Hochschulsport eine neue Chance geben. „Ich kann mir auf jeden Fall vorstellen
weiterzumachen.“ Da man sonst nie so tanzen kann wie hier, freut sie sich auf diese Option.
Auch ihrem Kommilitonen Tom, für den der Kurs völliges Neuland ist, gefällt es besser als
gedacht. „Ich wurde von Sophie gefragt, ob ich mitkommen möchte und hab dann einfach mal
reingeschaut“, sagt er. Die vielen Möglichkeiten, Unbekanntes auszuprobieren, werden also
tatsächlich wahrgenommen.
Im Gegensatz zu Tom denken viele Menschen beim Stichwort „Gesellschaftstanz“ in
Vorurteilen. Der Sportart wird oft ihr Ursprung vorgehalten, der sich in konservativen
Geschlechterbildern gründet. Besonders weil Rumba, Foxtrott und co. unter Studierenden
aber so beliebt sind, fragt sich, wie das in unserer Zeit noch modern sein kann. „Es ist normal,
dass hier einer führt und einer folgt. Das ist aber nicht geschlechtsabhängig“, betont Sophie.
„Außerdem wurde uns am Anfang freigestellt, wer -Leader- und wer -Follower- sein möchte.“
Paul Schubert erklärt: „Wir unterrichten nicht mit den Begriffen Herr und Dame. Ich denke
durchaus, dass Gesellschaftstanz auch heute noch modern ist, wenn man es eben so macht,
wie man es möchte“. Er versteht die Bezeichnungen des Followers und Leaders nicht als
Rollenbilder, sondern als simple Darstellung der Parts, die den Tanz leiten und die sich leiten
lassen. Er führt weiter aus: „Wir haben auch gleichgeschlechtliche Paare. Im
Gesellschaftstanz ist jeder gut aufgehoben.“ Egal ob Jive, Mambo oder Tango, die Individuen
eines Paares gehen immer miteinander in den Dialog. Die Kunst des Gesellschaftstanzes ist
Kontrolle abgeben zu können, ohne die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. In den
Beziehungen eines jeden Paares zueinander kann besonders durch ihre Vielfalt ganz
unterschiedliche Kunst entstehen. Das ist, was den Standard- und Lateintanz ausmacht, worin
sich jeder wohlfühlt und es einen Platz für alle gibt. Tanzen bedeutet, sich auszudrücken. Ein
Spiegel der Gesellschaft zu sein, ihr aber auch einen Spiegel vorhalten zu dürfen.
Ich sehe mich selbst in der Discokugel über meinem Kopf. Es ist, als würde ich fliegen, denn
die Co-Kursleiterin, die mich aufgefordert hatte, führt mich mit festem Griff durch den
Tanzsaal. Ein paar Mal wäre ich ihr fast auf die Füße getreten, doch sie lächelt selbstbewusst
und wir legen einen perfekten Walzer hin. Es fühlt sich an, als wäre ich geradewegs in ein
Märchen katapultiert worden. Frage ich: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer tanzt im
Göttinger Hochschulland? So ist die Antwort: Jeder, der möchte! Vielleicht ja auch du?
