Von Rewsan Üner
Die Inszenierung von In der Einsamkeit der Baumwollfelder im Deutschen Theater Göttingen nimmt Bernard-Marie Koltès’ rätselhaftes Stück und erweitert es um eine außergewöhnliche Ebene: Tänze. Unter der Regie und Choreografie von Valentí Rocamora i Torà wird das ursprünglich rein sprachliche Werk – ein Dialog zwischen einem Dealer und einem Käufer – in eine dynamische, körperliche Interpretation verwandelt, die so nur in dieser Göttinger Inszenierung existiert.
Koltès’ Originaltext ist ein Stück der Worte, ein Monolog-Dialog, bei dem die Figuren aneinander vorbeisprechen, ohne eine echte Verbindung herzustellen. Die Göttinger Inszenierung jedoch ergänzt dies durch Tänze, die die unausgesprochene Spannung, das Verlangen und die Kämpfe der Figuren körperlich ausdrücken. Dabei erinnern die Bewegungen an die Capoeira, eine brasilianische Kampfkunst, die Elemente von Tanz und Spiel vereint und in ihrer Geschichte tief in der Symbolik von Freiheit, Widerstand und Überlebensstrategien verwurzelt ist.
Die Capoeira ist eine synthetische Geste, die zwischen Tanz und Kampf angesiedelt ist. Ihre Besonderheit liegt darin, dass der Schlag niemals ausgeführt wird – er bleibt ein Potenzial, eine Andeutung, ein virtuoses Spiel in der Luft. Diese Kunst, den Schlag ästhetisch zu zeichnen, statt ihn auszuführen, betont die Kraft der Geste und des Moments. Historisch entwickelte sich die Capoeira als eine verschleierte Kampfkunst der brasilianischen Sklaven, die ihre Techniken als Tanz tarnten, um das Verbot durch die Sklavenhändler zu umgehen. Nach der Abschaffung der Sklaverei blieb die Capoeira als ein Spiel und ein kultureller Ausdruck erhalten, der die Dialektik von Illusion und Realität auf einzigartige Weise verkörpert.
In der Göttinger Inszenierung spiegelt sich diese Dynamik in den Bewegungen der Tänzer wider. Die Kämpfer – Dealer und Käufer – treten in einen verbalen Wettkampf, doch dieser wird durch Tänze ergänzt, die wie Phantomschläge wirken. Wie in der Capoeira geht es um die Kunst der Vermeidung, um die Ästhetik der Andeutung. Gewalt und Konflikt werden nicht in physischen Berührungen ausgetragen, sondern in der Spannung zwischen den Körpern sichtbar gemacht. Die Figuren bewegen sich in einem imaginären Raum zwischen Konfrontation und Verweigerung, zwischen Nähe und Distanz, zwischen Begehren und Zurückweisung.
Diese Inszenierung bringt dadurch eine zusätzliche Dimension in Koltès’ Text. Die Sprache – sonst das zentrale Ausdrucksmittel – wird hier von einer physischen Ebene begleitet, die die Tiefe der Dialoge unterstreicht. Die Tänze visualisieren das, was Koltès zwischen den Zeilen schreibt: das Verlangen, die Machtspiele und die Unfähigkeit, das eigene Begehren zu stillen oder dem anderen näherzukommen.
Besonders bemerkenswert ist die Entscheidung, eine weibliche Darstellerin in einer der zentralen Rollen einzusetzen. Diese Besetzung bricht mit der rein männlichen Dynamik des Originals und eröffnet neue Perspektiven auf Macht und Begierde. Die dominierende Farbe Rot – in Kostümen und Licht – betont die Leidenschaft, die Gefahr und das Unstillbare, das die Figuren antreibt.
Mit dieser Inszenierung gelingt es Valentí Rocamora i Torà, die thematische Tiefe von Koltès’ Werk auf außergewöhnliche Weise zu erweitern. Die Tänze, die das Stück nur in Göttingen prägen, ergänzen den Dialog um eine weitere Ausdrucksebene. Das Ergebnis ist ein packendes, verstörendes Theatererlebnis, das die Verwirrung des Textes nicht nur bewahrt, sondern durch die körperliche Ebene intensiviert.
