Ein Hauch von David gegen Goliath am Göttinger Institut für Soziologie

Eine Reportage von Alexander Wolter

Seit Anfang Februar nehmen die wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen des Soziologie-Instituts keine Abschlussarbeiten mehr an. Sie fordern eine Perspektive für mehr entfristete Stellen.

Wehende Fahnen, laute Sprechchöre und vielleicht ein bisschen Pyrotechnik. So stellen sich die meisten Menschen einen Streik für bessere Arbeitsbedingungen vor. Vielleicht taucht das Bild der Gelbwestenproteste aus Frankreich im Kopf auf oder Bilder von Streikenden der IG-Metall. Am Soziologie-Institut der Universität Göttingen läuft der Arbeitskampf jedoch ein bisschen anders. Offiziell dürfen sie nicht streiken. Daher versuchen die wissenschaftlichen Mitarbeitenden mit einer unkonventionellen, deutschlandweit einzigartigen Methode, auf die schlechten Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen: Seit Anfang Februar nehmen sie keine Abschlussarbeiten mehr zur Betreuung an.

Was sind die Hintergründe und Forderungen der Protestierenden? Was hat die Entwicklung mit dem Aufkommen des Neoliberalismus zu tun? Was sagen die Studierenden und wie steht die Universität zu der Aktion?

Befristet? Gefrustet? Im Streik!

Ich befinde mich vor dem Oeconomicum der Universität Göttingen. In dem klobigen, viereckigen Beton-Gebäude sind sowohl die Wirtschaftswissenschaften als auch die Sozialwissenschaften zuhause. Es ist der sechste Februar. Wissenschaftliche Mitarbeiter, kurz WiMis, des Soziologie-Instituts haben zwei kleine Zelte aufgebaut. Es riecht nach frischem Kaffee und es gibt Laugenstangen zum Mitnehmen. Ein blaues Banner wird aufgehängt mit der Botschaft: Befristet? Gefrustet? Im Streik! Man will ins Gespräch kommen und auf den am folgenden Tag startenden Streik hinweisen. Flugblätter werden verteilt. Einige Studierende suchen das Gespräch, viele sind es jedoch nicht. Trotzdem herrscht eine gute Stimmung unter den Anwesenden. Viele Vertreter*innen der Presse sind gekommen, um Interviews zu führen. Der angekündigte Protest hat im ganzen Bundesland für Aufsehen gesorgt. „Das Ziel ist, an den Beschäftigungssituationen an deutschen Hochschulen längerfristig was zu ändern. Es ist ja ein ganz hoher Teil an Beschäftigten befristet beschäftigt und wir drängen darauf, dass einfach mehr Mitarbeitende des Mittelbaus entfristet angestellt werden“, sagt mir ein Mitglied der Gruppe. Aus Sorge vor negativen Konsequenzen durch die Universität will es namentlich lieber nicht genannt werden.

Hinter den Protesten steht die Gruppe „Uni Göttingen Unbefristet“. Schon länger versuchen die Mitglieder auf die Befristungspraxis der Universität hinzuweisen. Ein Höhepunkt der Aktionen in Göttingen war eine Übergabe einer Petition mit über 1.000 Unterschriften an das Präsidium der Universität Anfang 2023. Darin wurde unter dem Motto #DauerstellenfürDaueraufgaben eine „verbindliche Regelung zur umfassenden Entfristung des wissenschaftlichen, technischen und administrativen Personals einschließlich sogenannter Qualifikationsstellen […]“ gefordert. Der damalige Präsident Metin Tolan versicherte, bis Mai desselben Jahres mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Kontakt zu treten. Bis heute warten die Mitglieder von „Uni Göttingen Unbefristet“ vergeblich auf eine Rückmeldung. Auch eine Erinnerung in Form
eines offenen Briefes an das Uni-Präsidium im Juni 2023 änderte daran nichts.

„Unsere Forderungen sind alles andere als radikal“

Die aktuellen Forderungen der protestierenden Wissenschaftler*innen sind nahezu identisch zu den damaligen. „Wir haben konkrete Forderungen verfasst und die haben wir auch kommuniziert“, sagt mir mein Gesprächspartner am Infostand, und weiter: „Vor allem geht es uns auch darum, mindestens mittelfristig eine ernsthafte Entwicklung einer Entfristungsstrategie zu sehen, also ernsthafte Bemühungen der Universität und des Dekanats zu sehen, wie es hingeht zu mehr Entfristungen“. Nachdenklich beißt er von einer Laugenstange ab und ergänzt kauend: „Die Forderungen betreffen konkrete Stellen, die entfristet werden müssen, die einfach exemplarisch sind. Dies sind zum Beispiel Stellen, die Daueraufgaben machen müssen. Es gab sogar schon den Plan eine Stelle zu entfristen, aber am Ende hat es dann doch nicht geklappt“.

Auch das Geld für weitere Entfristungen sei vorhanden, denn „Leute die befristet beschäftigt sind, kann man auch entfristet beschäftigen“. Zwar koste der Prozess langfristig ein kleines bisschen mehr, aber unmittelbar seien direkte Verbesserungen gegeben, sowohl in Lehre als in der Forschung. Ein großes Problem sei, dass sich niemand in der Verantwortung für derartige Änderungen sieht. „Die einen sagen, das Präsidium müsste was machen, die anderen sagen, die Fakultät müsste was machen. Dem wollen wir uns nicht aussetzen, weil unserer Meinung nach wir, die Mitarbeitenden, aber auch die Studierenden die Leidtragenden sind“. Ein Beispiel, wie es besser laufen kann, sei das Bundesland Hessen. Dort passiere schon deutlich mehr in Sachen Entfristungen, und: „Es gibt auch viele Universitäten in Niedersachsen, die schon deutlich geringere Befristungsquoten haben, als es hier der Fall ist“.

Mitglieder von „Uni Göttingen Unbefristet“ informieren über den Streik. Bild: A. Wolter

Univerzichtbar und prekär: die Beschäftigungsverhältnisse von Nachwuchswissenschaftler*innen

Um zu verstehen, wieso der Frust so groß ist, muss man sich die Zusammensetzung des universitären Lehrpersonals vor Augen führen. Die wissenschaftlichen Mitarbeitenden (WiMis) bilden den sogenannten „Mittelbau“ der Universität. Diese Gruppe ist aus drei Teilen zusammengesetzt: Es gibt erstens die unbefristet angestellten WiMis. Dies ist der kleinste Anteil der Gruppe. Im Jahr 2010 bestand im deutschlandweiten Durchschnitt rund 15 % des gesamten wissenschaftlichen Unipersonals aus ihnen. Zweitens gibt es die befristet angestellten Mitarbeitenden, die aus dem Haushalt der Universität finanziert werden. Diese Gruppe macht mit 33 % den größten Anteil des Universitätspersonals aus. Zuletzt gibt es die Gruppe der durch Drittmittel finanzierten WiMis. Aus ihnen bestehen im Durchschnitt rund 31 % des Unipersonals. Insgesamt machen die unbefristet angestellten Mitarbeitenden demnach über 60 % des Universitätspersonals an deutschen Hochschulen aus, sie sind also unverzichtbar für Forschung und Lehre.

Schaut man nach Göttingen, sind sogar 85 % des Unipersonals befristet angestellt. Am Soziologie-Institut, wo jetzt die Protestaktion gestartet ist, bietet sich ein noch drastischeres Bild dar: Von 27 WiMis, sind gerade einmal zwei Stellen unbefristet.

Vor 100 Jahren sah die Situation noch ganz anders aus. Im Jahr 1910 betrug der Anteil von wissenschaftlichen Mitarbeitenden an deutschen Hochschulen gerade einmal etwa 3 %. Mehr als die Hälfte des wissenschaftlichen Personals an Universitäten waren Professoren. Was ist in dieser Zeit passiert und wie konnte es zu dieser Situation kommen?

Mitte Januar im Zentralen Hörsaalgebäude der Universität. Etwa drei Wochen vor Beginn der Streikaktion. Die Fachgruppe Soziologie hat alle beteiligten Gruppen eingeladen, um über den bevorstehenden Streik zu informieren und in Austausch zu treten. Vor Ort sind die Fachgruppe selbst, der Fachschaftsrat Sozialwissenschaften, Vertreter*innen des Soziologie-Instituts, die Basisgruppe Sozialwissenschaften und interessierte Studierende. Etwa 30 sind gekommen, um Fragen zu stellen oder um sich einfach zu informieren. Ein großer Beamer projiziert den Ablauf der Veranstaltung auf die gegenüberliegende Wand. Es werden zwei Vorträge gehalten, einer von der Basisgruppe Sozialwissenschaften, einer von „Uni Göttingen Unbefristet“. Sie informieren über die aktuelle Befristungspraxis an der Universität und die Entwicklung. Bei der entscheidenden Ursache dieser Entwicklung sind sich alle einig: Neoliberalismus.

Von Thatcher über Reagan zu Kohl: Neoliberalismus erhält Einzug in die BRD

Neoliberalismus scheint heute nicht mehr als ein Kampfbegriff zu sein, für den nur noch die wenigsten Hardliner eines freien Marktes ihren Kopf hinhalten wollen. Ursprünglich kam der Begriff bereits in den 1930er Jahren auf und war eine Reaktion auf die negativen Erfahrungen des Laissez-faire Kapitalismus, also ungezügelter Marktpolitik ohne Kontrolle von staatlicher Seite. Thomas Biebricher ist Professor für Theorien der Ökonomie an der Universität Frankfurt. In seinem Buch „Neoliberalismus zur Einführung“ schreibt er, dass die [früheren] liberalen Theorien „Im Zuge ihrer Radikalisierung hin zum Laissez-faire […] die Notwendigkeit eines Rahmens für eine über Märkte organisierte Marktwirtschaft verkannt“ haben. Stattdessen sollte im Neoliberalismus ein System geschaffen werden, in dem der Staat die Rolle eines „Schiedsrichters“ innehat: Mit einem festen Regelwerk und der Überwachung dessen, ohne, dass der Staat aktiv in die Wirtschaft eingreift.

In den 70er Jahren begann ein Bedeutungswandel des Begriffes und hier setzen die Vorträge der beiden Gruppen ein. Sie erklären, dass es in Chile und Argentinien die ersten Experimente mit neoliberalen Marktformen gab. 1979 wurde Margaret Thatcher zur britischen Premierministerin gewählt. Ein Jahr später wählten die USA Ronald Reagan zum US-Präsidenten. Ihre Herrschaftsweise wird einen radikalen Umbruch nach sich ziehen, der für die folgenden Jahrzehnte prägend sein wird. Im Namen des Neoliberalismus wurden Steuern für Reiche gesenkt und Sozialstaatsausgaben verringert. Zusätzlich wurden liberale Thinktanks gegründet und es wurde vor allem eines: privatisiert und dereguliert. Aufgaben, die eigentlich traditionell in den Bereich des Staates fallen, wurden an Unternehmen veräußert.

In ihrer Präsentation machen die Vertreter*innen des Soziologie-Instituts deutlich, was die Privatisierungswelle für die deutsche Hochschullandschaft bedeutete. Untermauert durch Graphen und Bilder schildern die Vortragenden die Folgen. Unter Kanzler Helmut Kohl erhält das neoliberale Denken Einzug in Deutschland. Die Einrichtung von befristeten Arbeitsverhältnissen wurde vereinfacht, beispielsweise durch Leiharbeit.

Was diese Art von Arbeitsverhältnissen für die Beschäftigten bedeutet, wird deutlich, wenn man sich die Zahlen anschaut. Heute sind 98 % aller unter 35 Jahre alten wissenschaftlichen Beschäftigten an Universitäten befristet beschäftigt. Davon nach eigenen Angaben etwa ein Drittel unfreiwillig. Das heißt aufgrund mangelnder Alternativen. Es fällt der Satz: „Wissenschaft ist sozial-selektiv und prekär. Das Problem ist strukturell und nicht Göttingen spezifisch.“ Das bleibt hängen. Die WiMis an deutschen Hochschulen hangeln sich von Arbeitsvertrag zu Arbeitsvertrag, ohne einer sicheren Aussicht auf eine Festanstellung und: „Folge dieser Zustände sind Zukunftsängste, eine permanente Bewährungssituation und enormer psychischer Stress“. Die Vortragenden berichten, dass Schlafstörungen alltäglich für viele
Mitarbeitende sind. Dazu kommt eine Abhängigkeit gegenüber Vorgesetzten, in der Regel den Professor*innen, die über die weiteren Befristungen entscheiden können und eine daraus resultierende permanente Bewährungssituation.

Motor oder Bremse? Das „Wissenschaftszeitvertragsgesetz“

Die rechtliche Basis für die vielen entfristeten Stellen bildet das sogenannte „Wissenschaftszeitvertragsgesetz“ (WissZeitVG). In dem Gesetz wird geregelt, wie die Arbeitsverträge des wissenschaftlichen Personals an Hochschulen befristet werden können. Insgesamt dürfen Nachwuchswissenschaftler*innen aktuell zwölf Jahre befristet angestellt sein. Sechs Jahre in ihrer Qualifizierungsstelle für die Promotion, sechs Jahre in ihrer Post-Doc-Zeit. Häufig haben die Verträge eine Laufzeit von einem, zwei oder drei Jahren. Haben die Wissenschaftler*innen sich in den zwölf Jahren nicht für eine Professur qualifiziert, dürfen sie nicht weiter an Hochschulen beschäftigt werden. Mit ihrer Karriere in der Wissenschaft ist es dann vorbei. Doch wenn dieses Gesetz aus Sicht der Betroffenen so viel Unmut verbreitet, wieso wurde es dann eingeführt?

Ursprünglicher Gedanke des WissZeitVG war es, für eine ständige Rotation im Personal an Hochschulen sorgen. Dadurch sollte es den nachfolgenden Generationen ermöglicht werden, in den wissenschaftlichen Betrieb vorzurücken. Durch befristete Verträge sollten die Chancen für junge Wissenschaftler*innen gewahrt werden, Erfahrungen im Hochschul- oder Forschungsbetrieb zu sammeln und so die Möglichkeit haben, sich für oder gegen eine derartige Karriere zu entscheiden.

Auch das Präsidium der Universität rechtfertigt die vielen befristeten Stellen mit dem WissZeitVG. Auf Nachfrage heißt es von der Pressestelle, dass das Ziel des WissZeitVG die „Qualifikation der Beschäftigten (in der Regel durch Promotion oder Habilitation)“ sei. Dabei würden im Gesetz keine konkreten Aufgaben benannt, anhand derer die Qualifikation erfolgen soll. Und weiter: „Da eine Qualifizierung z. B. zur Professur erfolgen kann, sind Aufgaben in der Lehre und der Forschung auszuüben, die ggf. auch von Dauerpersonal übernommen werden“. Die Universität sieht die Betreuung von Abschlussarbeiten also als verpflichtende Aufgabe für die WiMis, da durch diese Arbeit notwendige Kompetenzen für spätere Qualifikationen erworben werden. Zu der Entfristungspraxis heißt es: „Würden jedoch alle befristeten Beschäftigungsverhältnisse in unbefristete Stellen umgewandelt, wäre den kommenden Generationen von Master- und Bachelorstudierenden die Qualifizierung im wissenschaftlichen Bereich unmöglich“.

Unter der Ampel-Koalition sollte das WissZeitVG 2022 reformiert werden. Zu den Reformvorschlägen gehörte eine festgelegte Mindestvertragslaufzeit von mindestens drei Jahren für den Erstvertrag in der Phase der Promotion sowie zwei Jahre nach der Promotion. Bei dieser Forderung sind sich alle Parteien einig. Jedoch wurden elementare Forderungen der Gewerkschaften nicht in den Gesetzesvorschlag aufgenommen. Dazu gehörten mehr Sicherheit, mehr Dauerstellen und kürzere Befristungen. Während GEW und das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Länder in der Pflicht sehen, weisen die diese Verantwortung zurück. Nach langen Verhandlungen wurde die Reform im Oktober 2024 an den Ausschuss Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung im Bundestag überwiesen. Es bleibt offen, wie es nach den Bundestagswahlen Ende Februar mit dem Gesetz weitergeht.

Viele Nachwuchswissenschaftler*innen sind unzufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen.
Bild: A. Wolter

Viel Solidarität und ein bisschen Unmut vonseiten der Studierenden

Zurück in Göttingen am Campus der Universität. Es ist die erste Woche nach Beginn der Protestaktion. Der Himmel ist wolkenlos, es ist ein wunderschöner Winter-Tag. Ich versuche, mit Studierenden ins Gespräch zu kommen und ihre Meinung zu der Protestaktion zu erfahren. Bei einer Tasse heißen Kaffee gegen die eiskalten Februar Temperaturen erzählt mir ein Soziologie-Student, dass er „volles Verständnis“ für die Streikenden hat. Zwar sei er nicht so tief im Thema drin, aber „was ich so mitbekommen habe, dass man immer Unsicherheit bezüglich der eigenen Zukunft haben muss, das find ich echt heavy“. Gleichzeitig sei er von der Protestaktion nicht betroffen und habe auch Verständnis für möglichen Unmut von Kommiliton*innen.

Diese Haltung steht exemplarisch für viele Studis, mit denen ich am Campus spreche. Aus allen Ecken hört man Solidaritätsbekundungen. Die Bereitschaft den Protest zu stützen scheint groß. Trotzdem klingen an der ein oder anderen Stelle Bedenken durch. Einige finden es fragwürdig, dass es ausgerechnet die Studierenden sind, die unter der Aktion leiden müssen. Denn durch den Wegfall der vielen wissenschaftlichen Mitarbeitenden als mögliche Betreuungspersonen sind es nur noch die Professor*innen, die als Ansprechpersonen für die Abschlussarbeiten in Frage kommen – und die sind in der Regel schon von der „normalen“ Arbeit überlastet.

Auch bei der Informationsveranstaltung Mitte Januar im ZHG wurden Bedenken geäußert. Was ist mit Studis, die aufgrund von Bafög-Bestimmungen oder wegen Wohnheimsplätzen darauf angewiesen sind, die Abschlussarbeiten im aktuellen Semester zu schreiben? Bei Härtefällen soll man sich an die Mitarbeiter*innen wenden. „Ihr könnte auf jeden Fall immer auf uns zu kommen. Wir finden dann schon eine Lösung“. Was Härtefälle sind, das möchten die Vertreter*innen des Instituts jedoch nicht genau festlegen. „Der Streik soll jetzt erstmal anlaufen und Druck aufbauen, dann sehen wir weiter“. Insbesondere die Härtefall-Regelung ruft jedoch einige Kritik von Studierenden hervor. Leo, eine Soziologie-Studentin, erzählt, dass sie selbst vom Streik betroffen ist. Sie meint: „Ich finde es sehr schwierig, dass ich mir da einen Grund erkämpfen muss, warum ich meine Abschlussarbeit schreiben möchte. […] Insbesondere, da ich jetzt im siebten Semester bin und daher keine Ausweichmöglichkeit mehr habe“.

Betreuung der Abschlussarbeiten als juristische Grauzone

Dieses Problem scheint auch die Universität erkannt zu haben. Noch im Dezember, nach der offiziellen Streikankündigung, hieß es in einem Statement vom Institut für Soziologie, der Dekanin und dem Studiendekan, dass alle Abschlussarbeiten weiterhin betreut werden und es zu keinen Engpässen kommen wird. Wie sich dies realistisch umsetzen lässt, wird sich in Zukunft zeigen.

Von der Pressestelle der Universität heißt es zudem: „Die Betreuung von Abschlussarbeiten ist im Rahmen der Tätigkeiten in der Lehre grundsätzlich die Aufgabe aller wissenschaftlichen Beschäftigten, also Hochschullehrenden und der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen“.

Genau dies ist jedoch eher ein Graubereich, den sich die Streikenden nun zum Nutzen machen. Wie bereits zu Beginn geschrieben, ist es ihnen als Angestellte im Öffentlichen Dienst verboten, einen „klassischen“ Arbeitskampf zu führen. In diesem Fall würde das die Niederlegung des gesamten Lehrbetriebs bedeuten. Die Betreuung der Abschlussarbeiten hingegen ist zwar im Arbeitsvertrag als Aufgabe definiert, aber es gibt keine explizite Anweisung zur Anzahl an Arbeiten, die übernommen werden müssen. Da die Streikenden im Moment bereits eine deutlich höhere Anzahl an Arbeiten betreuen als eigentlich vorgesehen, bedeutet der Streik für sie lediglich „Dienst nach Vorschrift“. Bei der Infoveranstaltung im ZHG erzählt ein Mitglied der Gruppe, dass es aktuell bereits 17 Abschlussarbeiten betreue. Vorgesehen seien lediglich vier parallel. Bereits jetzt leisten die wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen also viel unbezahlte Arbeit.

Studis leiden auch unter geringer Lehrqualität

Ein weiterer Punkt ist den Streikenden noch wichtig. Der aktuelle Streik treffe zwar die Studierenden, aber sie hoffen um Verständnis dafür. Bisher habe man schon verschiedene Protestformen ausprobiert, allerdings ohne das gewünschte Resultat. Bitten an das Präsidium, in einen Dialog zu treten seien nicht gehört worden. Daher sei diese Protestform nun ein Versuch, echten Druck aufzubauen.

„Wir hoffen sehr, dass wir von den Studis viel Unterstützung erfahren“, denn die aktuelle Situation schade auch den Studierenden. Insbesondere durch das zu hohe Arbeitspensum und den hohen mentalen Druck, wirkten sich die vielen befristeten Stellen auch indirekt auf die Qualität der Lehre aus.

Auch der Fachschaftsrat Sozialwissenschaften, weist in einem Statement bei der Veranstaltung im ZHG auf diesen Umstand hin. Sie erklären die Zwickmühle, in der sich die Studierendenvertretung befindet. Grundsätzlich stehe man Arbeitskämpfen positiv gegenüber und möchte diese mit ihren Möglichkeiten unterstützen. Sie erklären auch, dass es ebenfalls die Studierenden sind, die unter der Befristungspraxis am Institut leiden. Trotzdem ist es ihnen wichtig darauf hinzuweisen, dass die Studierenden am wenigsten Einfluss auf die Strukturen an Fakultät und Universität haben. Daher wollen sie für die Belastung der Studierenden bei diesem Protest Aufmerksamkeit schaffen.

Wie geht es jetzt weiter?

Die Streikenden haben vorerst keine Erwartungen an ein schnelles Ende der Aktion. Ab März wird Axel Schölmerich für ein Jahr Interimspräsident der Universität. In dem Jahr Übergangszeit wird vermutlich keine Entscheidung in dieser Thematik getroffen werden, um das zukünftige feste Präsidium nicht vor vollendete Tatsachen zu stellen. Der Protest soll daher auch dazu dienen, das Thema auf die Agenda zu bringen. Zu einer zeitlichen Dauer wollen die Vertreter*innen ebenfalls keine festen Angaben machen. Sie hoffen auf ernsthafte Gesprächsangebote und die Möglichkeit, mit den Verantwortlichen in einen regelmäßigen, zielgerichteten Dialog zu treten.

Von den Studierenden erhoffen sich die Streikenden möglichst viel Solidarität und Druck in Richtung der unterschiedlichen Gremien. An dem Infostand Anfang Februar sagt mir mein Gesprächspartner noch: „Wir laden natürlich die Studis ein, die Aktion zu unterstützen, indem sie dann weiter Druck aufbauen in Richtung Ministerien und in Richtung Präsidium, um für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen und zu streiten“, und weiter: „Unsere Aktion richtet sich ganz gezielt nicht gegen die Studis. Deswegen haben wir versucht, sie auf Gremienwegen einzubinden und versuchen jetzt für die Ängste Lösungen zu finden“.

Ob sich an der Situation grundlegend etwas ändert, bleibt abzuwarten. Vorerst läuft die Streikaktion an und eine erste Hoffnung der wissenschaftlichen Mitarbeitenden scheint sich erfüllt zu haben: Die ganze Problematik hat sehr viel Aufmerksamkeit erfahren in den letzten Wochen. Die konkreten Forderungen sind ebenfalls formuliert. Nun liegt es an Ministerium, Präsidium und Dekanat adäquate Umgangsformen zu finden und mit den Streikenden in einen Dialog zu treten.

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