Das Accouchierhaus


Am Geismar Tor, direkt hinter dem Stadtwall, steht ein schönes großes Gebäude. Es fällt auf, vor allem im Kontrast zum neuen, modernen Bau der Volksbank gegenüber. Heute ist dort das musikwissenschaftliche Seminar, doch seine Großzügigkeit stammt woanders her. 1791 wurde es als erste Frauenklinik im deutschen Sprachraum erbaut und als Angst davor, dass Krankheiten sich (angeblich) in stickiger Luft entwickeln, baute man Krankenhäuser groß und zugig. Das sorgte schon damals für einige Irritationen. So soll Goethe es als „neu und sonderbar erbaut“ bezeichnet haben. Auch Lichtenberg hatte Angst, dass sein Fach der Physik von dem „Akkouchier-Palast“ in den Schatten gestellt werde.


Das Gebäude wird Accouchierhaus genannt. Das Wort accoucher kommt aus französischen für „entbinden“. Die Geburtsklinik wurde von der königlich-hannoverschen Regierung finanziert, um unter anderem die hohe Sterblichkeitsrate bei Geburten zu senken und Geburten medizinisch zu erforschen. Der Standort Göttingen war vielleicht deswegen auserkoren, weil hier die uneheliche Geburtenrate im ganzen Reich am höchsten war. Sie lag 1792, also kurz nach der Eröffnung des Accouchierhauses, bei 23,3 %. Im Accouchierhaus wurden meist ledige Dienstmägde kostenfrei ab 6 Wochen vor der Geburt aufgenommen. Sie wurden verpflegt, konnte in einem Betzimmer anonym Buse tun und wollten sie das Kind nicht behalten, dann sorgte das Accouchierhaus für eine Unterbringung im Waisenhaus. Hört sich an wie eine großartige Möglichkeit für die, meist von ihren Dienstherren geschwängerten, Dienstmägde gesund, mit Würde und vor allen Dingen ohne Sünde aus dieser sozial schwierigen Lage herauskommen!


Leider stimmt das nicht ganz. Als Ausgleich mussten die Schwangeren Arbeiten wie Spinnen und Weben erledigen. Außerdem wurde ein so großer Schwerpunkt auf die Lehre gelegt, dass die Würde der Frauen nicht weiter beachtet wurde. Sie mussten sich bereit erklären, als Anschauungs- und Übungsobjekt zu dienen. Es gab einen Entbindungssaal mit Sitzen für Zuschauer und einen Raum zum Sezieren von Leichen. Ein Hinweis darauf, dass die Sterblichkeitsrate nicht runter, sondern hoch ging. Von Ärzten aus anderen Städten wurde beispielsweise der häufige Gebrauch der Geburtszange kritisiert. Diese wurde zum Beispiel in Wien bei 1 % der Geburten verwendet, in Göttingen bei 40. Aber auch aus der Stadt selbst kam Kritik. Die Sterblichkeitsrate bei Hausgeburten unter der Aufsicht von Hebammen war deutlich niedriger als im Accouchierhaus. Die Hebammen bemängelten, dass die Ärzte zu schnell die Notwendigkeit zum Eingriff sahen, während die Ärzte von den Hebammen für ihre abwartende Haltung kritisiert wurden. Dieser Streit war nicht zuletzt der gesellschaftlichen Abwertung der weiblichen Hebammen durch die männlichen Ärzte geschuldet. Mit der Zeit sprachen sich die Zustände im Accouchierhaus herum und wer es sich leisten konnte, bezahlte eine Hebamme.


Während in den unteren Etagen also die Dienstmägde ihre Kinder bekamen, entwickelte sich die Direktorenwohnung zu einem Gesellschaftlichen Mittelpunkt der Stadt.
Mit dem Einzug des Direktors von Siebold hielt 1833 auch die Musik Einzug. Und ab da stiegen viele berühmte Gäste dort ab. Zum Beispiel Clara Schumann oder Johannes Brahms. Nach gut hundert Jahren war das Gebäude als Klinik aber überholt. Zwischenzeitlich war es Lager für die Gemäldesammlung der Uni, beherbergte verschiedene Seminare und Institute und wurde während des zweiten Weltkriegs vom Roten Kreuz wieder als Medizinische Einrichtung benutzt. 1985 musste das Gebäude dann sehr schnell wegen Einsturzgefahr evakuiert werden. Grund dafür war die Musiksammlung, die zu schwer für das Gebäude war. Das Accouchierhaus wurde bis 1989 saniert und seitdem beherbergt es das Musikwissenschaftliche Seminar- inklusive Musikinstrumentensammlung- und tritt damit in die schönen Fußstapfen seiner Geschichte. Die vielen verstorbenen Mütter und Neugeborene werden aber nicht vergessen, ihnen wird auf einer Plakette am Eingang gedacht.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

close-alt close collapse comment ellipsis expand gallery heart lock menu next pinned previous reply search share star