Der Jazz ist tot – oder doch nicht?

Eindrücke eines Jazzliebhabers vom 45. Göttinger Jazzfestival im Deutschen Theater

Die Bühne ist hell erleuchtet an diesem Samstag; in der linken Ecke, ein wenig versteckt durch ein nord-stage-3-Keyboard, steht ein glänzender Yamaha-Flügel. Mehrere Mischpulte und ein gut bestücktes Schlagzeug nehmen weitere Stellen auf der Bühne in Beschlag. Oben an der Decke prangert robust, fast unauffällig, ein Plakat, auf dem „Jazz Festival Göttingen“ geschrieben steht. Es ist mein erstes, richtiges Jazz-Konzert. Während ich die Bühne mit meinen Augen absuche, überlege ich wieder, ob der Jazz eigentlich noch da ist. Ob er eigentlich noch lebt oder bereits in die ewigen Geschichtsbücher eingetaucht, in riesigen Diskografien verschwunden oder in staubigen Dachbodenkisten von Liebhabern versenkt worden ist. Als Theo Croker und seine Band dann ihre Plätze einnehmen, kann man förmlich die Atmosphäre, diese Spannung spüren. Es soll auch meine eigene Spannung sein. Es ist etwas aufregendes, etwas fernab Neues, das ich noch nicht kennengelernt habe. Schon die Kleidung ist ein Hingucker: Cappys oder Mützen auf den Köpfen, lässige Oberkleidung und ebenso lässige Hosen. Samples erklingen, Schriftzüge erscheinen auf einem flackernden Hintergrund auf einer Leinwand. Dann setzt die Band ein.

Es entsteht ein lyrisches Fest voller Improvisation. Selten habe ich experimentelleres gehört und doch trifft Crokers Band alles, was es gab, gibt und geben wird. Es werden Einflüsse wahr, die in den verschiedensten Bereichen der Musik zu hören sind. Es wird gesungen, gerappt, gemoved. Da ist Pop, Latin, Soul, Jazz, Rap und – oh ja – sogar Klavierfiguren, die mich an Chopin erinnern lassen. Überhaupt könnte ich viele Vergleiche ziehen: Von präzisen Trompetentönen à la Miles Davis über Klaviertechniken, die Theolonius Monk, Oscar Peterson und vielleicht sogar Eroll Garner miteinander vereinen, anreißen, verwirklichen. Alles Musiker, die ich nur von CDs, von Spotify, Youtube oder Instagram kenne. Aber Theo Crokers Band erzeugt etwas Neues, Schwebendes, etwas, das nach Erleben und Werden klingt. Es fallen Sätze wie „Where will you go? Who will you become?“. Wohin wirst du gehen? Wer wirst du sein?

Sie bauen Temposprünge ein, man merkt die Grenzen manchmal gar nicht. Alles wird zu einem stilvollen Gesamtbild verwoben, mit bester Unterstützung als auch Soloarbeit von Bass und Drums. Höre ich da auch Esperanza Spalding und Charles Mingus raus? Die Samples von dem Musiker am Mischpult durchbrechen den Rahmen, die ein Song haben kann. Plötzlich fällt auch dieser eine Satz, der mich aufschrecken lässt. Jazz is dead. 

Ist das Genre wirklich tot? Auch wenn wohl ein anderer Sinn gemeint ist, bleibt der Satz in mir haften.

Von Jazz liest und hört man allerhand. Er findet sich in zahlreichen Filmen wieder, wird zu Kaminfeuer der Dinnermusik und ist die Urmutter sämtlicher Genres. Irgendwie stammt alles vom Jazz ab, der Jazz mischte wiederum europäische, amerikanische und afrikanische Einflüsse zusammen. Auch heute noch. Noch völlig von der überwältigenden Musik beeindruckt, gehe ich weiter, verlasse den großen Theatersaal DT-1. Menschen überall, manche haben schon ein Glas Wein und Brezeln in der Hand. Ich frage mich, wie sie den Theatersaal so schnell verlassen konnten. Eine Gruppe Frauen mit Sektgläsern in der Hand unterhält sich im Gang. Fröhlich, begeistert reden sie miteinander. Mein Kumpel und ich stehen an der Theke, trinken Bitter Lemon und Ginger Ale (Brezel waren schon wieder aus), wälzen Programmhefte und tauschen uns über den Auftritt aus. Bombastisch, außergewöhnlich, cool, hipp könnte er gewesen sein. Die Zeit der Losgelöstheit beginnt, draußen ist es eiskalt, aber im warmen Gebäude haben die Menschen ihr Kulturleben ergriffen.

Wieder Saal DT-1. Wir haben den ersten Song von Axiomic schon verpasst: Jazz entschleunigt, lässt einen die Zeit vergessen. Mit im Mittelpunkt steht diesmal ein Altsaxophon. Manche hätten den Saal wieder verlassen, weil die folgenden Songs nicht mehr so feurig wären wie der erste Song, erzählt mir eine Frau. Wir unterhalten uns; es fühlt sich gut an, sich über die Musik auszutauschen. Auf der Bühne spielt die Gruppe heiße Soli, kräftige Töne und Rhythmen, die sich einen Schlagabtausch liefern. Besonders cool wird es auch, als der Bassist zwischen Zupfen und Streichen wechselt. Vielleicht ein wenig Dave Brubeck und sein Quartett mit Paul Desmond am Werk. Es ist die exotische Lebendigkeit, die von ihnen ausgeht und die zu einer Reise in die eigene Fantasie einlädt. Kaum verwunderlich, dass alle Auftritte bisher wie im Flug vergangen sind.

Wir gehen weiter; im Keller spielt eine kleine Formation standardähnliche Songs mit klingendem Bass. Das Saxophon glänzt im Scheinwerfer. Der kleine Raum ist so voll, dass auch draußen im Gang noch Leute stehen. Wir übrigens auch. Später gehe ich alleine durch den Anbau mit dem Café des Theaters, um einen Blick auf die Uniband zu erhaschen. Im Café fällt mir wieder die strahlende Beleuchtung auf, die Menschengruppen, die links und rechts an ihren Tischen sitzen oder stehen und lebhaft miteinander reden. Ist der Jazz doch noch präsent? Immerhin muss es ja eine Bedeutung haben, dass das Haus voll – vielleicht sogar mehr als das – ist.

Das denke ich dann auch, als die Jazzrausch Bigband die Bühne betritt. Eine Band, die Big Band- Sound mit Techno-Musik mischt. Kann das funktionieren? Techno ist doch ganz anders als Jazz, viel heftiger, harter Beat. Doch das tut nicht viel zur Sache, der Abend war auch so schon gut genug. Im silbernen Licht stehen Instrumente unterschiedlicher Art; ganz links entdecken wir sogar eine Kontrabassklarinette, nebst einer Bassklarinette. Daneben wiederum ein Baritonsaxophon, ein Stück weiter sogar das seltenere Sopransaxophon, vom Aufbau her wie eine goldene Klarinette aussehend. Ein weiterer geistiger Pluspunkt ergibt sich durch die Tubaspielerin, deren Instrument nach den 1920er Jahren aus dem Mainstream-Jazz fast verbannt schien. Ärgerlich nur, dass sie wegen der Lautsprecher schlecht zu sehen ist.

Doch während die Band – jung und dynamisch – spielt, setzt sich dieser Groll. Plötzlich stehen Menschen vor uns auf, räumen Klappstühle weg und fangen an zu tanzen. Es gibt kein Entkommen, man muss einfach mitmachen. Gerade auch, weil der Baritonsaxophonist (der auch die Klarinetten spielt) auf der Bühne im Danceflow abgeht und das Publikum zum Mitmachen animiert. Und die Musik? Teilweise Arrangements aus der magischen Brahms-Schatulle mit starken Beat und abgefahrenen Solos. Auch wenn die Klarinetten durch tiefere Instrumente manchmal untergehen, kann ich mir am Ende (also nach der Zugabe) sicher sein: Nein, der Jazz ist nicht tot. Er war niemals tot. Er wird immer weiterleben und sich weiterentwickeln in der Musik von heute. Ob durch Techno, Pop, Rap oder Klassik – er geht stets mit ihnen. Und er bewegt die Menschen.

(Falls ihr noch mehr Content zum Jazz Festival haben wollt, hört doch mal in unsere Podcast Folge 5.2 rein – hier findet ihr ein Interview mit dem Bandleader der Jazzrausch Bigband.)

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