Von Sebastian Brosowski
Am 14. Mai wählt die Türkei ihren Präsidenten. Doch es steht weit mehr als nur dieses Amt zur Wahl. Es könnte ein entscheidender Punkt für die türkische Demokratie sein.
Vor fünf Jahren wählte die Türkei zuletzt ihren Präsidenten. Damals wählten die Türken mit 52,59 % der Stimmen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zum zweiten Mal, nachdem er das Amt im Jahr 2014 zuerst gewonnen hatte. Es war zudem das Jahr, in welchem die Türkei von einem Parlamentarischen zu einem Präsidentiellem System wechselte und dem Präsidenten wesentlich mehr Macht gab. Dazu gehörte die Fähigkeit des Präsidenten, per Dekret zu regieren. Dieser Wechsel sorgte laut Kritikern dafür, dass parlamentarische Kontrolle effektiv nichtig gemacht wurde.
Gleichzeitig ist Erdoğan einer der zahlreichen Regierungschefs, welche eine Form der „illiberalen Demokratie“ vertreten. Hierzu gehört auch, neben dem Konsolidieren von Macht im eigenen Amt, die verstärkte Strafverfolgung politischer Gegner. Ebenso gelang es Erdoğan, zahlreiche Loyalisten an die türkische Judikative zu bestellen. Nach dem gescheiterten Coup d’État im Jahr 2016 wurden verstärkt Journalisten und vermutete Anhänger der Gülen–Bewegung politisch verfolgt. Auch Websites wie Wikipedia wurden temporär blockiert. Laut dem Stockholm Center for Freedom waren zum 17. November 2021 72 Journalisten zu Gefängnisstrafen verurteilt, 89 verhaftet und 167 weitere gesucht oder im Exil. Im Dezember 2022 wurde Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu wegen Beleidigung von Beamten zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten und einem Politikverbot verurteilt. Er galt damals als ein möglicher Gegner Erdoğans bei der Präsidentschaftswahl.
Erdoğans Popularität, die ihm dazu verholfen hat, demokratische Institutionen auf diese Weise zu schädigen, liegt am starken wirtschaftlichen Wachstum. Diesen konnte er zunächst als Premierminister und später als Präsident erreichen. Die Direktorin des Türkei–Programms des Middle East Institute Gönül Tol nannte dieses Vorgehen in der „Financial Times“ einen „Authoritarian Bargain“: Man bringt wirtschaftliches Wachstum und die Bevölkerung unterstützt dafür den schrittweisen Abbau von Institutionen.
Der immer stärker werdende Illiberalismus macht die Wahl dieses Jahr so wichtig für den Erhalt der Demokratie in der Türkei. Das sieht man auch, wenn man Erdoğans Gegner genauer betrachtet. Als Erdoğan im Jahr 2018 die Präsidentschaftswahl gewann, hatte er sechs verschiedene Gegner aus verschiedenen Parteien. Bei dieser Wahl einigten sich sechs größere Oppositionsparteien auf einen Kandidaten: Kemal Kılıçdaroğlu. Er ist seit 2010 der Anführer der Opposition und der größten Oppositionspartei CHP („Cumhuriyet Halk Partisi“; übersetzt „Republikanische Volkspartei“). Die Einigung auf Kılıçdaroğlu ist zum einen bedeutsam, da es nur vier Kandidaten für die türkische Präsidentschaft gibt. Zusätzlich allerdings haben sich Parteien aus verschiedenen politischen Spektren auf Kılıçdaroğlu geeinigt. Dieses Spektrum reicht von islamistisch–nationalistisch bis sozialdemokratisch–grünen Parteien.
Die Koalition um Kılıçdaroğlu einigte sich auf ein Programm, wodurch mehr Macht zurück an das Parlament und an die Bevölkerung gegeben werden soll. Um die Koalition zusammenzuhalten, nahm Kılıçdaroğlu allerdings auch migrationsfeindliche Themen in seine Agenda auf. Flüchtlinge aus Syrien und aus dem Iran sollen zurück in ihre Heimatländer geschickt werden. Die Türkei beherbergt zurzeit mehr als 3,5 Mio. syrische Flüchtlinge.
Die Einigung auf einen Kandidaten ist ein großer Vorteil. Ein weiterer Vorteil für die Oppositionist, dass Erdoğans „Authoritarian Bargain“ droht zu zerfallen. Die Inflation in der Türkei ist während der Corona–Pandemie stark angestiegen und erreichte 85,5 % gegen Ende 2022, nachdem die türkische Notenbank, auf Druck von Erdoğan, die Leitzinsen gesenkt hatte. Wirtschaftsexperten warnen vor einer Rezession in der Türkei.
Gleichzeitig steht Erdoğans Regierung für das Handeln vor und nach dem Erdbeben in der Südost–Türkei in der Kritik. Hierbei wurden mehr als 59.000 Tote geborgen und mehr als 125.000 Menschen verletzt. Erdoğans Regierung wird von Kritikern unterstellt, dass Loyalisten der Partei, die Bauaufträge bekommen hatten, bevorzugt wurden und kaum inspiziert worden seien. Dies soll zu einer verstärkten Anfälligkeit für Erdbeben der Gebäude in den betroffenen Regionen geführt haben.
Dies soll nicht bedeuten, dass Erdoğan die Wahl garantiert gewinnen oder verlieren wird. Erdoğan wurde bereits zweimal gewählt und hat eine starke Wählerbasis aus hauptsächlich konservativen Muslimen. Vor der Wahl verdeutlichte er erneut das Wirtschaftswachstum, das er geschaffen hatte. Zudem erhöhte er den Mindestlohn in der Türkei um 55 % und die Gehälter im öffentlichen Dienst um 30 %. Auch in Deutschland dürfen türkische Staatsbürger an den Präsidentschaftswahlen teilnehmen. Erdoğan genießt in der deutsch–türkischen Bevölkerung einen guten Ruf. Bei der Präsidentschaftswahl 2018 haben knapp zwei Drittel der Türken, die in Deutschland ihre Stimme abgaben, für Erdoğan gestimmt.
In den letzten Umfragen sind Kılıçdaroğlu und Erdoğan beide gleichauf. In Deutschland durften etwa 1,5 Millionen Türken in der Präsidentschaftswahl abstimmen. Dazu hatten sie bis zum 9. Mai Gelegenheit. Die Präsidentschaftswahl in der Türkei findet am 14. Mai statt. Sollte keiner der Kandidaten mehr als 50 % der Stimmen erhalten, geht es am 28. Mai in die Stichwahl.
Verliert Erdoğan, so bedeutet es, dass Authoritarismus in einer illiberalen Demokratie umkehrbar ist. Sollte Erdoğan jedoch gewinnen, so kann er die nächsten Jahre nutzen, um noch mehr Macht in seinem Amt zu konsolidieren. Dies könnte dann die letzte freie Wahl in der Türkei gewesen sein.